Max Strohe im Interview

„Mein Leben ist keine Heldenstory“

Der Berliner Spitzenkoch und Autor Max Strohe über seine fatale Lust an der Provokation, die große Kunst der Enthemmung und den Spaß am Schreiben von Sexszenen.

Interview von Tobias Haberl
22. August 2022 - 11 Min. Lesezeit

Erster Eindruck, wenn man den Sternekoch Max Strohe besucht: Was für ein Typ! Nein: Endlich ein Typ! Direkt, herzlich, angstfrei. Auf seinem Tisch: Bargeld, ein Reisepass, sein Notebook mit Aufkleber: „Always hungry“ – man ahnt, dass damit nicht nur Essen gemeint ist. „Was trinken?“, fragt er, „Wasser, Wein, Kaffee?“, telefoniert kurz, und fünf Minuten später serviert eine junge Frau exzellenten Espresso auf einem silbernen Tablett. Praktisch, wenn man über seinem eigenen Restaurant wohnt.

SZ: „Ich kann nichts außer kochen“, haben Sie mal gesagt. Jetzt haben Sie ein Buch über Ihr zugegebenermaßen erstaunliches Leben geschrieben. Warum?

Max Strohe: Weil ich schon als Teenager Schriftsteller werden wollte. Ich hatte null Bock auf Schule, bin in der 8. Klasse zweimal sitzen geblieben und wurde von der Schule geschmissen, aber gelesen habe ich immer.

Was denn zum Beispiel?

„Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse war eine Offenbarung. Christian Kracht ein Gott für mich, außerdem Henry Miller, Bret Easton Ellis, Benjamin von Stuckrad-Barre, Michel Houellebecq. Ich habe mir immer gewünscht, so schreiben zu können, wie ich Geschichten erzähle, wenn ich einen im Tee habe. Irgendwann habe ich mich hingesetzt, ein paar Seiten geschrieben und gemerkt: Das ist der Ton, nach dem ich jahrelang gesucht habe.

Ein direkter, expliziter Ton, den manche als politisch unkorrekt empfinden könnten. Es geht viel um Sex und Drogen.

Ich schreibe, wie ich koche: intuitiv, aus dem Bauch heraus. Genau wie mich kein deutscher Streberteller mit sämtlichen Texturen interessiert, wollte ich auch im Buch nichts beschönigen oder weglassen. Mein Leben war so, und wer weiß: Vielleicht musste so ein Buch auch einfach mal wieder geschrieben werden. Ich habe von einem riesigen Fundus an Anekdoten aus meinem Leben profitiert. Keine Ahnung, ob ich mir so eine Geschichte auch ausdenken könnte.

Im Buch steht, dass Sie „tatsächliche und fiktionale Ereignisse miteinander verwoben“ haben.

99 Prozent sind wahr, ich musste lediglich ein paar Leute schützen.

Okay, wir gehen ein paar Anekdoten durch und Sie sagen, ob sie sich tatsächlich so zugetragen haben.

Okay.

Sie wurden mit 70 Stundenkilometern ohne Führerschein auf dem Roller angehalten?

Stimmt. Als die Polizisten meinen Personalausweis sahen, fragten sie mich, ob ich Eugen Strohe kennen würde. Und ich so: „Klar, der ist mein Opa und war mal Motorradrennfahrer.“ Ich hatte Glück. Beide hatten bei ihm ihren Führerschein gemacht. Ich durfte weiterfahren.

Sie haben in der DAK-Geschäftsstelle in Sinzig einen Lehnstuhl aus Buchenholzimitat aus dem Fenster geschmissen.

Ich habe ihn durchs Großraumbüro geschmissen, weil mir eine Krankschreibung verweigert wurde.

Sie haben sich absichtlich die Fingerkuppe des linken Daumens abgeschnitten.

Ja. Ich war verliebt und wollte lieber Zeit mit meiner Freundin verbringen als in der Küche rumstehen und Kräuter hacken.

Zitat aus dem Buch: „Auf dem Heumarkt in Scherben stehend bis zur Besinnungslosigkeit gevögelt und nicht gekommen.“

Kann ich mit einem Wort beantworten: Karneval.

Sie haben ein Tim-Raue-Kochbuch geklaut?

Ja. Ist ganz einfach. Man gehe in die Buchhandlung in den Schönhauser Arkaden in Berlin, nehme das Buch, werfe es aus dem Fenster und sammle es auf der Straße wieder ein. Ich habe das vorher mit Reclam-Heften in der Buchhandlung Bouvier in Bonn geübt.

„Ich habe mich in meinem Leben lange nicht zurechtgefunden.“

Sie scheinen gern zu provozieren. Das führt zu komischen Situationen, ist aber auch wahnsinnig kindisch, finden Sie nicht?

Natürlich, aber so war ich. Ich wollte mit gezielten Provokationen auf mich aufmerksam machen. Das war wie ein Tourette-Syndrom. Ich erkannte die Chance, jemandem auf den Sack zu gehen, und habe sie ergriffen. Mein Vater hat meine Mutter verlassen, als sie mit mir schwanger war. Ich habe mich in meinem Leben lange nicht zurechtgefunden, kam zu spät zur Schule, antwortete nicht, wenn ich was gefragt wurde. Irgendwann entdeckte ich Drogen, Marihuana, Koks, Speed.

Waren Sie ein Problemkind?

Ich habe viel Unsinn gemacht, war aber nie so richtig kriminell. Ich war kein Terrorkind. Heute frage ich mich, mit welchem Bewusstsein ich damals durch die Welt gestolpert bin, wie es mir eigentlich ging, ich kann mir das gar nicht mehr vorstellen. Leider habe ich keine Connection zu dem Menschen, der ich damals war.

Kompliment für die Sexszenen im Buch: literarisch, fantasievoll, aber nie kitschig. Man merkt, dass Sie Michel Houellebecq verehren.

Ich habe Houellebecqs Sexszenen immer geliebt und weiß noch, wie enttäuscht ich war, als ich kapiert habe: Okay, da geht es auch noch um andere Sachen. Über Sex zu schreiben war eine Art Fingerübung für mich. Immer wenn ich nicht weiterwusste, habe ich eine Sexszene dazwischengeschoben. Klar frage ich mich, wie das bei Kritikern ankommt, aber weglassen war keine Option.

Als Sternekoch, heißt es, verdient man wenig oder zahlt sogar drauf. Der Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann soll mit seinem Restaurant Aubergine zwei Millionen Minus gemacht haben. Wollen Sie mit dem Buch endlich mal Geld verdienen?

Ich habe gehört, dass man auch mit Büchern kein Geld verdient.

Ist dieses Buch für Sie ein Intermezzo oder fiebern Sie seiner Publikation nervös entgegen? Mit anderen Worten: Wie wichtig ist Ihnen dieses Buch?

Ich dachte lange, ich sei kein ehrgeiziger Mensch. Erfolg im Beruf hat mich nicht interessiert. Es war mir auch egal, ob ich eine Urkunde bei den Bundesjugendspielen gewinne. Heute weiß ich: Das war eine Lebenslüge, weil ich irgendwann gemerkt habe, dass es mir sehr wohl wichtig ist, zum Kreis der Menschen zu gehören, die etwas gut können. Inzwischen trete ich nirgendwo mehr an, um nicht gut darin zu sein. Mit diesem Buch mache ich mich angreifbar, es ist radikal ehrlich. Und wenn jemand schreibt, dass es scheiße ist, würde mich das mehr kränken, als wenn jemand behauptet, der Strohe hat das Essen versalzen.

„Ich habe verantwortungslos gelebt, Freundschaften zerstört, verbrannte Erde zurückgelassen.“

Haben Sie beim Schreiben etwas über sich gelernt, was Sie vorher nicht wussten?

Ja. Ich habe kapiert, dass die Anekdoten, die ich seit 20 Jahren über mich erzähle, gar nicht so lustig, sondern eher traurig sind. Dass ich mich jahrelang in Ironie geflüchtet habe, weil ich Angst hatte, mich mit mir auseinanderzusetzen. Ich habe beim Schreiben in einen Spiegel geblickt, in den ich lange nicht schauen wollte. Das hat auch wehgetan. Die Wahrheit ist: Ich habe verantwortungslos gelebt, Freundschaften zerstört, verbrannte Erde zurückgelassen. Mein Leben ist keine Heldenstory, aber offensichtlich habe ich das gebraucht, um der werden zu können, der ich heute bin.

Gab es ein Schlüsselerlebnis, das sie vernünftig hat werden lassen?

Ich wollte immer sein wie Kurt Cobain, aber das war out of reach, also habe ich es als Koch versucht. Ich dachte lange, Koch sei ein Beruf für Menschen, die sonst nichts auf die Reihe kriegen, dritter Bildungsweg und so, aber irgendwann habe ich verstanden: Kochen ist nicht gleich Kochen, da gibt es auch diese Subkultur, in der Köche wie Künstler arbeiten. Als dann noch meine Tochter zur Welt kam, habe ich die Überholspur verlassen.

Ein Spargelgericht in Strohes Restaurant Tulus Lotrek.
Ein Spargelgericht in Strohes Restaurant Tulus Lotrek.

Sie sind seit fünf Jahren Sternekoch. Wann haben Sie kapiert: Kochen ist mein Ding?

Ich war wieder mal unsicher, als es darum ging, zwei Lebensmittel miteinander zu kombinieren, als mein damaliger Küchenchef sagte: Max, du kannst alles miteinander kombinieren, und wenn es nicht passt, kannst du eine Brücke bauen, die den Geschmack von Lebensmittel X zu Lebensmittel Y transportiert. Damals habe ich kapiert: Wenn das so ist, dann geht alles. Dann gibt es keine Grenzen mehr. Der Moment war eine Erleuchtung.

Nach Ihrer Ausbildung in einem Landgasthof und einer Anstellung in einem gehobenen Restaurant haben Sie in einem Altersheim und auf einer griechischen Urlaubsinsel gearbeitet. Ist das kein ungewöhnlicher Weg für einen, der Sternekoch werden möchte?

Na ja, das wollte ich damals ja nicht, im Gegenteil, ich bewarb mich im Altersheim, weil ich keine Lust mehr auf den Stress in der gehobenen Gastronomie hatte. Mein Plan ging auf: Ich musste abends nicht arbeiten, niemand hat mich angebrüllt, der Druck war weg. Dahinter stand meine Feigheit, mich Herausforderungen zu stellen. Ich hatte Angst zu versagen, aber so wächst man natürlich auch nicht.

„Im Zweifelsfall ging es um Leben und Tod.“

Haben Sie im Altersheim etwas gelernt, wovon Sie heute profitieren?

Kulinarisch nicht, menschlich schon. Das Essen ist uninteressant, Standardküche in riesigen Mengen, ohne frische Lebensmittel. Die Essensausgabe war beides: unterhaltsam und makaber. Manche dachten, sie seien im Restaurant, und haben sich über den Tisch beschwert. Andere bekamen auf einmal Astronautennahrung, und man wusste: Okay, das geht nicht mehr lange gut. Das war Fließbandarbeit, gleichzeitig mussten die Speisepläne penibel auf Krankheiten und Unverträglichkeiten abgestimmt werden, im Zweifelsfall ging es um Leben und Tod.

Wie haben Sie gefeiert, als Sie 2017 mit Ihrem Restaurant „Tulus Lotrek“ den ersten Stern bekommen haben?

Als der Anruf kam, saß ich im Taxi. Auf dem Display eine unbekannte Nummer, dann eine Stimme: „Herr Strohe?“ Ich natürlich sofort zurückgeblafft: „Hey, Sie haben mich angerufen, wie wäre es, wenn Sie sich erst mal vorstellen.“ Darauf er: Er sei vom Guide Michelin und freue sich außerordentlich, mir mitteilen zu dürfen, und so weiter. An dem Abend haben wir Champagner getrunken, dafür haben wir nach der offiziellen Gala in Potsdam in einer Kneipe mit Dosenstechen weitergemacht.

Wissen Sie was? Eigentlich sind Sie das Klischee eines Sternekochs.

Inwiefern?

Exzentrisch, laut, provokativ. In Politik und Kultur wurde diese Sorte Männer zuletzt heftig attackiert, als zu dominant, breitbeinig und patriarchal.

Okay, als introvertierter Typ wäre ich wohl eher die Ausnahme unter Spitzenköchen. Es ist eine laute Branche, die Exzentrik immer noch verzeiht oder sogar gutheißt. Ein Freund von mir sagt: Spitzenköche sind die letzten Rockstars. In einem anderen Interview hat mich eine Journalistin permanent gefragt, warum ich keine Fleischersatzprodukte verwende und warum immer noch so wenig Frauen in der Spitzengastronomie arbeiten.

Wie haben Sie reagiert?

Ich habe ihr gesagt, dass das nicht meine Themen sind. Ich betreibe doch keinen veganen Taco-Laden in Los Angeles. Wenn jemand kein Fleisch mag, machen wir ihm Gemüse, aber kein Fleischersatzprodukt. Ich war ziemlich genervt, weil wir in unserem Restaurant bewusst kochen, weil wir freundlich miteinander umgehen, ohne Geschrei und Stress, aber sorry, Fleisch gibt’s halt immer noch.

„Wir wollen Genuss ohne Dogma.“

„Lieber einen Gang zu viel essen, lieber einen Wein zu viel trinken, aber dafür genussvoll aus dem Alltag kommen“, haben Sie mal gesagt.

Ich weiß, der Zeitgeist steht eher auf Maßhalten. Aber wir wollen Genuss ohne Dogma und Mission. Mich nervt, dass einem heute permanent das bestmögliche schlechte Gewissen verkauft wird. Von mir aus kann sich jeder nach den neuen Verzichtsmethoden optimieren, aber doch bitte nicht im Restaurant. Wenn man sein Leben schon Restriktionen unterwirft, sollte man sich im Gegenzug auch mal was gönnen, bevor die nächste Welle der Selbstdisziplin über einen hereinschwappt. Klar sind manche Themen wichtiger geworden, der Umgangston, Nachhaltigkeit, Gesundheit, aber wenn man sich einigermaßen vernünftig verhält, kann man zwischendurch auch mal „Prost“ sagen. Wir haben unser Restaurant nicht umsonst nach einem großen Fresser und Säufer benannt.

Dem französischen Maler Henri de Toulouse-Lautrec.

Genau. Er hat rauschende Dinnerpartys gegeben, vom Bürgermeister bis zur Bordsteinschwalbe waren alle willkommen. Er selbst trank am liebsten Portwein und hatte immer eine Muskatnuss in der Anzugtasche, um sie drüber zu hobeln. Als Ende des 19. Jahrhunderts plötzlich Wasser das große Ding in Paris wurde, soll er seinen Gästen Gläser mit Goldfischen hingestellt haben. Nach dem Motto: Wenn ihr schon Wasser trinken wollt, dann trinkt.

Eine schillernde Person, die in Ihrem Buch eine große Rolle spielt, ist Ihr Vater, der Kunst- und Antiquitätenhändler Thomas Schmitz-Avila. Wie wichtig ist er für Ihr Leben?

Ich habe ihn erst in der Pubertät kennengelernt. Wir sind nach New York geflogen, haben im Waldorf Astoria gewohnt und in der Oyster Bar alles bestellt, was auf der Karte stand, von gratiniertem Hummer nach Thermidor-Art über Seezunge in einer Zitronen-Beurre-Blanc bis zu Jakobsmuscheln in Rahmsauce. Ich weiß noch, was er gerufen hat, als ich eine Fanta bestellen wollte: Plastik sei nicht zum Saufen da, da könne ich ja gleich Kaugummis fressen, statt Austern zu schlürfen.

Wie haben Sie reagiert?

Es war immer das Gleiche: Ich fand ihn erschreckend und großartig zugleich: ein hochgebildeter, ästhetischer, exzentrischer Mensch, der, wie er selbst sagt, den Weltgeschmack gepachtet hat. Würde man sein Leben verfilmen, müsste er von Jack Nicholson gespielt werden.

Haben Sie Züge von ihm geerbt?

Je genauer ich ihn kennengelernt habe, desto besser habe ich mich selbst verstanden. Er lebt in einer Villa, umgeben von alten Gemälden und Möbeln. Immer wenn ich da war, hatte ich das Gefühl, als würde ich alles schon ewig kennen, als sei diese Welt ein Teil von mir. Mein Vater ist ein grandioser Performer, meine Freunde haben ihn und seine Geschichten geliebt. Das Problem ist nur: Er war auch als Vater ein Performer. Es hat lange gedauert, bis ich in seiner Gegenwart nicht mehr nervös war. Eines Tages sah er mir zu, wie ich einen Steinbutt auseinandernahm. Bewundernd beobachtete er meine präzisen Schnitte, dann sagte er: „Max, du brauchst dein Abitur nicht nachmachen, Kochen ist ein geiler Beruf.“ Für mich war der Satz lebenswichtig.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen seiner Liebe zu alten Möbeln und Ihrer zu kreativem Kochen?

Ja und nein. Er liebt die Vergangenheit, alte Möbel, alte Bücher, alte Sprachen. Ihn macht das geil. Ich finde das auch schön, aber es macht mich nicht an, Möbel in meinem Wohnzimmer rumstehen zu haben, die vor 300 Jahren jemand anderes gemacht hat. Was stimmt: Beide Berufe haben mit Geschmack und Erinnerungen zu tun. Er bewahrt Schönheit, ich versuche sie herzustellen, und zwar in Form von Genuss.

Sie sind mehrmals in der Vox-Show „Kitchen Impossible“ aufgetreten, seit diesem Jahr sind Sie Juror in der „Küchenschlacht“ des ZDF. Warum, wenn nicht wegen des Geldes, geht man als Koch ins Fernsehen?

Ego. Und Geld. Das stimmt schon. Ich habe immer gesagt: Wenn der Strohe mal ins Fernsehen geht, dann nur für „Kitchen Impossible“, dem „Wetten, dass..?“ der Kochshows. Ich leugne auch nicht, dass die Reservierungen im Restaurant sofort anziehen, wenn ich mal wieder im Fernsehen war. Trotzdem ist mir wichtig, dass ich ein Koch im Fernsehen und kein Fernsehkoch bin.

Team
Interview Tobias Haberl
Digitales Storytelling Christian Helten
Bildredaktion Niklas Keller