Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Egon Bahr:Entspannungspolitik ist nie zu Ende

Lesezeit: 2 min

Egon Bahr wollte den Kalten Krieg mit ideologiefreier Politik beenden. Dadurch gelang, was viele für unmöglich hielten. Das sollte heute Vorbild sein.

Kommentar von Heribert Prantl

Trauer, Dank und Kummer: Es fehlt eine Stimme der politischen Weisheit in dieser Welt, wenn Egon Bahr nicht mehr ist. Er, der so etwas war wie der kleine Bruder von Willy Brandt, stand für Klarheit und Klarsicht; er stand für visionären Pragmatismus. Dieser visionäre Pragmatismus hatte, seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, vermeintlich Unmögliches zum Ziel: mit einer ideologie- und illusionsfreien Politik dem Kalten Krieg allmählich ein Ende zu machen.

Das Unmögliche wurde möglich. Das Unmögliche begann ganz klein, das ist mehr als fünfzig Jahre her: Als die Berliner Mauer errichtet war, bestand Brandt-Bahr'sche-Politik nicht darin, ständig nur "Die Mauer muss weg" zu rufen. Sie wollte die Mauer durchlässig machen und schaffte das zunächst mit einem Passierscheinabkommen, das Westberlinern über Weihnachten Verwandtenbesuche in Ostberlin erlaubte. Das waren die bescheidenen Anfänge des Wandels durch Annäherung.

Der CDU-Kanzler Erhard protestierte, weil man damit nicht die Mauer abtragen könne. Brandt, damals Berliner Bürgermeister, beraten von Bahr, hielt dagegen: Die Politik solle sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht dazu da sei, den Menschen das Leben leichter statt schwerer zu machen.

Bahr ließ sich weder von Herbert Wehner noch von der CDU irritieren

Visionärer Pragmatismus scheut das Kleine nicht - wenn er weiß, dass das Kleine der Einstieg ist zum entfernt liegenden Großen. Das ist es, was den Menschen heute fehlt: Sie haben das Gefühl, sei es in der Europa- oder der Flüchtlingspolitik, dass die Politiker sich im Klein-Klein erschöpfen, dass sie nichts wagen, weil sie kein großes Ziel kennen.

Vom Philosophen Lichtenberg stammt der Satz: "Ich kann nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll." Die Bahr'sche Übersetzung ins Politische hieß "Wandel durch Annäherung". Er hat sich nicht irritieren lassen von Herbert Wehner, der das zunächst für "bahren" Unsinn hielt, und nicht von der CDU, die von "Wandel durch Anbiederung" sprach.

Putin wieder die Hand reichen

Bahr und Brandt haben das Unmögliche auch deswegen geschafft, weil personelle Konstellationen und Umstände sich global glücklich fügten. Aber diese günstigen Umstände wären ergebnislos vergangen, wenn sie nicht eine vorgedachte Aufgabe vorgefunden hätten: den Ost-West-Ausgleich, der das Programm der sozialliberalen Regierungen war.

Die neue Ostpolitik begann damit, dem Ostblock nicht mehr den Rücken zu zeigen, sondern sich ihm zuzuwenden. Die Entspannungspolitik führte zum Grundlagenvertrag mit der DDR; und am Ende stand die gewaltlose Implosion der Sowjetunion.

Entspannungspolitik ist nie zu Ende. Der frühere Außenminister Genscher hat dem Westen soeben geraten, Putin wieder die Hand zu reichen. Das war auch das Anliegen von Bahr. Noch am 21. Juli mahnte er bei einer Buchvorstellung: "Wir könnten wie zu Beginn der Entspannungspolitik sondieren - und beginnen, einseitig Sanktionen gegen Russland abzubauen." Die Mahnung ist nun Testament geworden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2614521
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 21.08.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.