Süddeutsche Zeitung

Zukunft Venezuelas und der Region:Chavismo ohne Chávez

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Einer der letzten lateinamerikanischen Anführer alter Schule ist tot, auch der klassische bolivarische Sozialismus wird nicht überleben. Das politische Vermächtnis von Hugo Chávez ist gewaltig: In Zukunft wird kein Politiker in der Region mehr gegen die selbstbewusst gewordenen Massen regieren können.

Von Sebastian Schoepp

Im April vergangenen Jahres, als es ihm schon sehr schlecht ging und er mindestens drei Krebs-Operationen hinter sich hatte, sagte Hugo Chávez in Caracas in der ihm eigenen volltönenden Kitsch-Rhetorik: "Gott, nimm mich noch nicht zu Dir! Es gibt noch so viel, was ich tun muss für dieses Volk."

Die Überzeugung, ohne sie gehe es nicht, ist das Grundkennzeichen lateinamerikanischer Caudillos, der Anführer, deren Ursprünge in der spanisch-katholischen Clanstruktur wurzeln. Autoritär, sentimental, brutal, erratisch, paternalistisch, so ist ihr Auftreten. Ein Psychiater, der Chávez nach seinem ersten Putschversuch 1992 im Militärgefängnis von Caracas untersuchte, attestierte ihm starken Narzissmus: "Er muss bewundert werden."

Simón Bolívar, Fidel Castro, Juan Domingo Perón, Hugo Chávez, sie alle haben ein System um ihre Person, um ihren Namen herum konstruiert. Mit Hugo Chávez stirbt auch allmählich der Caudillismus. Der Herbst der Patriarchen ist angebrochen, sie passen nicht mehr zu den demokratischen Mediengesellschaften und dem neuen Mittelstand, der auch in Lateinamerika entsteht.

Das heißt aber noch lange nicht, dass damit sein politisches Erbe sterben würde. Chávez war - wie viele seiner linksorientierten lateinamerikanischen Kollegen - ein Produkt der Verhältnisse vor ihm. Mit seinem Wahlsieg 1998 zerstörte er das verkrustete Klüngelsystem zweier Parteien der postkolonialen Reichtumseliten, die sich an der Macht abgewechselt hatten.

Es gibt keinen Weg zurück

Aus der Sicht seiner zahlreichen Wähler ist es Chávez' Verdienst gewesen, den Massen Stimme verliehen zu haben, die vorher stimmlos gewesen waren. Es ist nicht anzunehmen, dass sie nun wieder verstummen werden. Sein bolivarischer Sozialismus in Reinform wird nicht überleben, so es diesen überhaupt jemals gegeben hat. Doch einen Weg zurück zu den vorherigen Verhältnissen gibt es auch nicht.

Chávez größte Schwäche war sein Narzissmus. In Venezuela gab es nur zwei Möglichkeiten: Man war für ihn und profitierte vom System - oder man war gegen ihn und duckte sich oder wanderte am besten aus. Seine Fehde mit der alteingesessenen Presse, die ihn bekämpfte, färbte auf die Medien in Europa und Nordamerika ab.

Achse der Hoffnung oder linker Wüterich?

Globalisierungskritiker priesen ihn als die "Achse der Hoffnung", für die meisten konservativen Medien war er ein Wüterich, der ein überkommenes System propagierte. Menschen wie Peter Scholl-Latour haben ihn stets als "Diktator" bezeichnet, was an Wählerbeschimpfung grenzt, denn Chávez hat nach seinem gescheiterten Putschversuch von 1992 mehr als ein Dutzend Wahlen und Abstimmungen gewonnen.

Sein Narzissmus befahl Chávez, nicht nur zu Hause erfolgreich zu sein, er wollte den ganzen Kontinent bekehren zum bolivarischen Sozialismus, seiner ganz eigenen Form des ölfinanzierten Staatskapitalismus. Zum Vorbild wählte er geschickt eine Figur aus, die in Lateinamerika über alle Zweifel erhaben ist: Simón Bolívar, Befreier von der spanischen Kolonialherrschaft, dessen Antiimperialismus er mit öffentlichen Wohltaten mischte.

Funktioniert hat diese Mischung nie, sie wuchs sich aus zu einer chaotischen, korrupten Staatsbürokratie, an der sich zu viele Nutznießer und Hofschranzen labten. Der zweite große Fehler des Hugo Chávez war, sich ganz auf das Öl zu verlassen und es zu versäumen, eine moderne Produktivgesellschaft in Venezuela zu schaffen. Stattdessen finanzierte er Sozialprogramme, die ihm Wahlsiege sicherten.

Hugo Chávez stand mit seiner Politik quer zum Weltmainstream und wurde damit zum Stichwortgeber für den ganzen Kontinent. Während der Rest der Welt sich immer mehr dem Marktliberalismus unterzuordnen begann, wählte Lateinamerika links. Auch das war ein Ergebnis der Ereignisse zuvor. Zwei Dekaden lang war die Region Spielfeld des Neoliberalismus gewesen, der jedoch daran scheiterte, mehr Wohlstand für alle zu schaffen.

International fiel Chávez erstmals 2006 so richtig auf, als er in New York das Rednerpodest der UN-Vollversammlung betrat, wo vor ihm George W. Bush gesprochen hatte. "Puh, hier riecht's nach Schwefel", begann er seinen Vortrag - und war fortan die Leitfigur der US-Kritiker in aller Welt.

Man muss das aus der Geschichte heraus verstehen. Die USA hatten zwei Jahrhunderte lang die Geschicke Lateinamerikas bestimmt, und das nicht immer zum Besten. Diktatoren wurden nach Belieben eingesetzt, solange sie Kommunistenjäger waren. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlor der schnurrbärtige Guerillero seinen Schrecken. Zum neuen Feind des American Way of Life wurden seit dem 11. September 2001 Taliban und andere Turbanträger. Chávez und seine Verbündeten nutzten diesen Windschatten der Weltaufmerksamkeit aus, um ihr Modell in Lateinamerika zu installieren - eine Entwicklung, die Richard Nixon nie zugelassen hätte.

Die oligarchische Rechte spielt keine Rolle mehr

Was bleibt von diesem Modell? Die Dinosaurier der Weltrevolution, Daniel Ortega in Nicaragua sowie Fidel und Raúl Castro auf Kuba, können sich nur noch mit Chávez' Öllieferungen an der Macht halten. Sie müssen sich ernsthafte Sorgen machen. Der Ecuadorianer Rafael Correa und Evo Morales in Bolivien haben selbst Rohstoffe, sie waren nur bei ihrem Aufstieg auf Anschubhilfe aus Venezuela angewiesen. Länder wie Argentinien, Brasilien, Uruguay oder Chile haben sich vom Chavismus ohnehin nie sehr beeinflussen lassen. Ihre Verbindung zum Caudillo aus Caracas blieb symbolisch, seine Rhetorik half ihnen, Abstand von Washington zu gewinnen.

In Venezuela selbst wird es nun vor allem darum gehen, die verhängnisvolle Polarisierung zu beenden. Der von Chávez ausgesuchte Nachfolger Nicolas Maduro ist dafür kaum der richtige Mann. Die fälligen Wahlen könnten die Stunde eines Mannes wie Henrique Capriles Radonski sein, der das sozialdemokratische Brasilien sein Vorbild nennt.

Die alte, klassische, oligachische Rechte ist als politischer Faktor kaum noch präsent. Das ist ein Phänomen, das in vielen Ländern Lateinamerikas zu beobachten ist. Ohne oder gegen die selbstbewusst gewordenen Massen kann keiner mehr regieren. Das ist definitiv das Vermächtnis des Hugo Chávez. Dass er sozusagen im Felde der Politik unbesiegt abtreten musste, wird Chávez für seine Anhänger sowieso unsterblich machen. Genau deswegen war er im Oktober im Bewusstsein des sicheren Todes noch mal angetreten. Es war sein letzter Akt von Narzissmus.

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