Süddeutsche Zeitung

Wahlanalyse:Das Gefühl, zu kurz zu kommen

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Die AfD ist in strukturschwachen Regionen stark und zieht viele Arbeiter an. Besonders in Sachsen identifizieren sich die Wähler mit den Inhalten der Partei.

Von Jan Bielicki, München

Östlich des 15. Längengrades gibt es nicht mehr viel Deutschland. Drei Orte sind es, sie heißen Zentendorf, Deschka, Zodel und gehören alle zur sächsischen Gemeinde Neißeaue. Ein Art Hinkelstein markiert hier auf 15º 02' 37'' östlicher Länge den östlichsten Punkt Deutschlands. 1724 Einwohner lebten zuletzt in Neißeaue. 895 haben bei der Landtagswahl eine Listenstimme abgegeben. Drei wählten die KPD, neun die Satirepartei Die Partei - aber 433 die AfD. Fast die Hälfte der Wähler hat hier ihr Kreuz bei den Rechtsaußen-Populisten gemacht, genau 48,4 Prozent. Damit ist Neißeaue die Gemeinde mit dem höchsten AfD-Stimmenanteil in Sachsen. Das war schon bei der Europawahl im Mai so.

Jenseits großer Städte gibt es nur wenig Wahlkreise, in denen die AfD nicht auf 20 Prozent kommt

Und es spiegelt einen groben geografischen Trend: Je weiter es in Brandenburg und Sachsen Richtung Osten geht, desto besser war am Sonntagabend das Wahlergebnis der AfD. 13 ihrer 15 sächsischen Direktmandate gewann die Partei in der östlichen Hälfte des Landes. Auch in Brandenburg befinden sich die Wahlkreise, die sie direkt gewonnen hat, zumeist östlich von Berlin (oder ganz im Süden oder Norden des Landes). Und der Osten beider Bundesländer wäre auf den Wahllandkarten noch blauer eingefärbt gewesen, hätten dort nicht auch die beiden prominentesten Direktbewerber kandidiert: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gewann seinen Wahlkreis Görlitz II ebenso wie wenige Kilometer nördlich sein Brandenburger Amtskollege Dietmar Woidke (SPD) den seinen namens Spree-Neiße I - und das, obwohl in beiden Wahlkreisen die AfD die meisten Zweitstimmen abräumte.

Es liegt aber nicht an der Himmelsrichtung, dass die AfD im Osten von Deutschlands Osten besonders stark abschneidet. Hier finden sich die Landstriche, die nach vielen Kenndaten gemeinhin als strukturschwach gelten. Hier werden weniger Steuern gezahlt, die Dörfer und Kleinstädte verlieren Einwohner, wer zurückbleibt und nicht wegzieht, ist im Schnitt älter als anderswo in beiden Ländern. Der Weg zu Ärzten und Apotheken, zur Schule und zur Arbeit ist hier oft weit, Busse und Bahnen fahren nicht so oft, wenn überhaupt.

In den großen, auch im Osten boomenden Städten liegen andere vorne. In den Landeshauptstädten Potsdam und Dresden eroberten die Grünen jeweils ein Direktmandat, in Leipzig gar zwei, und dort verteidigte auch eine linke Abgeordnete ihren Wahlkreis, der vor fünf Jahren noch der einzige in Sachsen war, den die CDU nicht gewinnen konnte. In Chemnitz, nach den Demonstrationen gewaltbereiter Rechtsextremer vor einem Jahr zum Symbol für die Stärke des rechten Randes in Sachsen geworden, hat die AfD zwar besser, aber auch unterdurchschnittlich abgeschnitten. Die CDU gewann alle drei Wahlkreise der Stadt. Und für Brandenburg gilt tendenziell: Je näher Berlin ist, desto schwächer sind die Ergebnisse der AfD. Im Speckgürtel rund um die Bundeshauptstadt hat die SPD ihre Kandidaten meist durchsetzen können - und wenn dort mal nicht ein Sozialdemokrat das Rennen machte, war es der Mann von den Freien Wählern oder die Frau von der CDU.

Es hieße jedoch, die AfD zu unterschätzen, würde man sie zur Partei abgehängter Regionen erklären. Dort ist sie zwar stärker als anderswo, aber stark dazugewonnen hat sie fast überall. Jenseits von Leipzig, Dresden oder Potsdam gibt es nur wenige Wahlkreise, in denen sie nicht auf mindestens 20 Prozent und Platz zwei der Wählergunst kommt. In Cottbus, einer Großstadt mit Universität, hat die AfD beide Wahlkreise direkt gewonnen. Auch im Umland von Leipzig, einer Wachstumsregion, ja sogar in manchen Außenbezirken der Stadt selbst ist die AfD zwar nicht Erster, aber immerhin starker Zweiter.

Wie viele Menschen auf Hartz IV oder andere Sozialleistungen angewiesen sind, spielt für das jeweilige Ergebnis der AfD keine Rolle. Befragungen der Forschungsgruppe Wahlen zufolge ist die AfD vor allem eine Partei der Arbeiter - bei ihnen liegt sie in beiden Ländern klar vor allen anderen Parteien. Der Wähler, der sich auf die AfD einlässt, ist demnach bevorzugt männlich, zwischen 30 und 60 Jahren alt und hat die Mittlere Reife oder mindestens einen Hauptschulabschluss. Es sind, so lässt sich daraus schließen, keineswegs Leute, die zu kurz gekommen sind - sondern, so zeigen die Befragungen, vielmehr solche, die sich zu kurz gekommen fühlen.

In Sachsen war die AfD nur für 28 Prozent Denkzettel-Partei - 70 Prozent teilen ihre Positionen

So meinen in Brandenburg 46 Prozent der AfD-Wähler, sie hätten im Leben weniger, als ihnen gerechterweise zustehe. In Sachsen fühlen sich 51 Prozent der AfD-Wähler (und nur 29 Prozent der Wähler anderer Parteien) benachteiligt, und 70 Prozent meinen: "Die Ostdeutschen werden behandelt wie Bürger zweiter Klasse". Dass sich auch gut qualifizierte Facharbeiter im Osten doppelt so häufig Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen als ihre Kollegen im Westen, kommt wohl noch dazu, wie eine am Montag veröffentlichte Analyse des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung herausstellte. Tatsächlich werden in Sachsen nur 39, in Brandenburg 45 Prozent der Beschäftigten nach einem Tarifvertrag bezahlt. In Westdeutschland sind es 57 Prozent. Laut einer Befragung des Instituts Infratest Dimap treibt 84 Prozent der sächsischen AfD-Wähler die "Sorge, dass sich unser Leben zu stark verändert".

In den Motiven für ihre Entscheidung unterscheiden sich die von der Forschungsgruppe Wahlen befragten AfD-Wähler in Sachsen und Brandenburg jedoch deutlich. In Brandenburg gaben 53 Prozent von ihnen an, anderen Parteien einen Denkzettel verpassen zu wollen. 43 Prozent wählten die AfD ihrer Inhalte wegen. In Sachsen dagegen war die AfD nur für 28 Prozent Denkzettel-Partei, 70 Prozent erklärten, sie "wegen ihrer politischen Forderungen" gewählt zu haben, und für gar 95 Prozent der AfD-Wähler nennt sie als "einzige Partei die wichtigen Probleme beim Namen".

Doch die Wahl hat auch gezeigt: Auch in Ostdeutschland hat die AfD deutlich mehr Gegner als Anhänger. Keine andere Partei hat laut den Daten der Forschungsgruppe Wahlen bei Sachsen und Brandenburgern ein auch nur annähernd so schlechtes Image wie die Rechtspopulisten. 63 Prozent der Sachsen sehen rechtsextremes Gedankengut in der AfD weit verbreitet. Entsprechend gering ist die Neigung bei Wählern anderer Parteien, auf die Rechtsaußen zuzugehen: Ein Bündnis zwischen AfD und Christdemokraten etwa fänden nur fünf Prozent der CDU-Anhänger gut.

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SZ vom 03.09.2019
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