Süddeutsche Zeitung

Ukrainekrieg:Ist Bachmut tatsächlich gefallen?

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Erst schien der ukrainische Präsident den Verlust der lange umkämpften Stadt zu bestätigen, dann ließ Wolodimir Selenskij dementieren. Wie sich die Lage tatsächlich darstellt.

Von Florian Hassel, Belgrad

Es war eine scheinbar eindeutige Antwort auf eine eindeutige Frage: Ob die seit einem Jahr umkämpfte Stadt Bachmut noch von Kiew kontrolliert werde, fragte ein Reporter den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij auf dem G-7-Gipfel im japanischen Hiroshima: "Ist Bachmut noch in ukrainischen Händen? Die Russen sagen, dass sie Bachmut eingenommen haben." Die Antwort Selenskijs: "Ich glaube nicht" - und seine weiteren Sätze schienen den Verlust Bachmuts zu bestätigen: "Da ist nichts, sie haben alles zerstört. Da sind keine Gebäude mehr. Es ist schade, es ist eine Tragödie, aber für heute ist Bachmut nur in unseren Herzen ... Bachmut ist tot, und eine Menge toter Russen ... Sie kamen zu uns. Unsere Verteidiger in Bachmut, sie haben starke Arbeit geleistet, und natürlich schätzen wir sie."

Wenig später aber ruderte Selenskijs Sprecher Serhij Nykyforow via Facebook zurück: "Ich glaube nicht" sei tatsächlich die Antwort auf die Frage gewesen, ob die Russen Bachmut eingenommen hätten. Der ukrainische Generalstab beharrte in seinem Tagesbericht am Sonntagmorgen, der Kampf um Bachmut "stoppt nicht". Der stellvertretenden Verteidigungsministerin Hanna Maljar zufolge hätten die Ukrainer Bachmut in eine Halbumkreisung genommen und kontrollierten weiter einen Teil der Stadt.

Kiew hatte auch in anderen Fällen Verluste erst mit Verzögerung bestätigt

Freilich gibt es mittlerweile faktisch zwei Kämpfe um die früher einmal von 70 000 Menschen bewohnte Stadt in der Ostukraine. Der erste ist der um die Stadt selbst - den hatten die Russen in Gestalt der Wagner-Söldnergruppe schon vor Tagen faktisch gewonnen. Geolokalisierte Aufnahmen zeigten schon am 18. Mai, dass Wagner-Söldner 95 Prozent Bachmuts kontrollierten und ukrainische Einheiten nur noch wenige Straßen und Wohnhäuser am westlichen Stadtrand, überschlug der Kyiv Independent. Es ist gut möglich, dass Wagner auch diese Straßen nun erobert hat. Kiew hat bei anderen Gelegenheiten - etwa im Januar beim Fall der Stadt Soledar an die Russen - einen Verlust erst mit Verzögerung zugegeben.

Indes ist die militärische Lage im Fall von Bachmut kompliziert. Nördlich, westlich und südwestlich der Stadt haben im Gegenzug ukrainische Einheiten in den vergangenen Tagen nach übereinstimmenden, auch russischen Angaben erfolgreiche Gegenangriffe gestartet und mehrere Dörfer und insgesamt gut 20 Quadratkilometer zurückerobert. Der britischen Militäraufklärung zufolge hat Moskau in den letzten Tagen offenbar hastig mehrere Bataillone zur Verstärkung geschickt.

Ein weiteres Vordringen russischer Kräfte in Richtung der nächsten ukrainischen Städte Kostjantyniwka und vor allem zu den ukrainischen Hauptstützpunkten im Donbass - Kramatorsk und Slowjansk - scheint deshalb unwahrscheinlich zu sein. Allerdings stufen ukrainische Fachleute ihrerseits auch die ukrainischen Angriffe lediglich als lokales Vordringen in der Region kämpfender Einheiten ein, nicht als den Beginn einer seit Wochen erwarteten Gegenoffensive, bei der neu aufgestellte, mit westlicher Technik ausgerüstete Brigaden zum Einsatz kommen sollen.

Das Institut für Kriegsstudien (ISW) analysierte, die von Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin und danach auch vom russischen Verteidigungsministerium und vom Kreml verkündete vollständige Einnahme Bachmuts sei "rein symbolisch, selbst wenn sie zutrifft". Denn die letzten Häuserblocks, die Russland nun erobert haben will, seien weder taktisch noch strategisch wichtig. Russlands Einheiten hätten kein "operativ bedeutsames Terrain zur Fortführung offensiver Operationen" gewonnen und seien ihrerseits weiter ukrainischen Gegenangriffen ausgesetzt. Das ISW bezweifelt auch, dass Wagner Bachmut tatsächlich nun der regulären russischen Armee übergeben und sich geordnet zurückziehen könne, wie von Prigoschin angekündigt.

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