Süddeutsche Zeitung

Türkei und EU:Der Abschied von Europa könnte Erdoğan in die Hände spielen

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Wer die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara beenden will, liefert dem türkischen Präsidenten möglicherweise ein Thema zur Mobilisierung der Massen. Die lästigen Kontrolleure aus Brüssel wären auch Geschichte.

Kommentar von Christiane Schlötzer, Istanbul

Zuerst wird die Marseillaise gespielt, dann die deutsche und die türkische Nationalhymne. Ein Imam spricht ein Gebet, ein katholischer und ein evangelischer Priester geben ihren Segen. Am kommenden Sonntag wird in Istanbul an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren gedacht, die einstigen Kriegsgegner erinnern gemeinsam an Sieg und Niederlage.

Sie erinnern damit auch daran, wie wechselhaft Bündnisse und die damit verbundenen Fantasien sind. Als Deutsche an der Seite der Osmanen in den Krieg zogen, da kursierten in Berlin Ideen von einem Großwirtschaftsraum von der Nordsee bis zum Persischen Golf.

Die Europäische Union hat bescheidenere Ausmaße, und dass die Türkei in absehbarer Zeit dazugehören wird, ist nicht zu erwarten. Wäre die EU nur ein Großwirtschaftsraum, dann hätte das Land mit 80 Millionen Konsumenten und einer Wachstumsrate, die trotz Lira-Krise die der Euro-Zone lässig überflügelt, gute Chancen.

Aber bei den politischen Kriterien klafft ein großes schwarzes Loch: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Achtung der Minderheitenrechte - überall gibt es so viele Defizite, dass ein plötzlicher Wandel zum Besseren ein Wunder wäre. Die Gewaltenteilung ist praktisch abgeschafft in Recep Tayyip Erdoğans monolithischem System.

Für Ankara hätte ein Ende der Bindung an die Vorgaben der EU Vorteile

Sollte man daher nicht endlich Schluss machen mit der Illusion, die Türkei könnte noch Mitglied der Union werden? Und die ohnehin schockgefrorenen Beitrittsverhandlungen nach 13 Jahren beenden, "im beidseitigen Interesse", wie EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn nun fordert?

Als Alternative empfiehlt der Politiker aus Österreich eine "realistische strategische Partnerschaft", im Bereich Energie, bei Migration und dem Wiederaufbau Syriens. Hahn dürfte viel Zustimmung finden, nicht nur in Wien. Daraus könnte eine Bewegung werden, die neue Emotionen anheizt, in Europa und der Türkei.

Die Befürworter eines Schlussstrichs könnten Erdoğan sogar in die Hände spielen. Der türkische Präsident hat jüngst selbst vorgeschlagen, die Bürger seines Landes über einen EU-Beitritt abstimmen zu lassen, am besten schon mit der Kommunalwahl im März 2019.

Dafür braucht seine Partei, der gerade der ultranationalistische Partner weggebrochen ist, noch ein großes Mobilisierungsthema. Erdoğan hat interessanterweise offengelassen, welche Position er bei einem solchen Referendum einnehmen würde. Verspricht ihm eine antiwestliche Kampagne die meisten Stimmen, dürfte er sich ohne viel Zögern dafür entscheiden. Drohungen aus Brüssel oder Wien würden ihm dabei nur helfen, den bitteren Abschied von einem alten Traum als stolzen Akt nationaler Souveränität zu verkaufen.

Für Ankara hätte ein Ende der Bindung an die Vorgaben der EU den Vorteil, die lästigen EU-Kontrolleure, die regelmäßig kritische Berichte schreiben, loszuwerden. Die knappe Hälfte der Türken, die Erdoğan nicht gewählt haben, könnte sich dann nicht mehr auf diese Berichte berufen und Ankara damit nerven. Wer also über alternative "Partnerschaften" für die Türkei nachdenkt, der muss dringend einen Weg finden, der Ankara nicht vom Streben nach Demokratie und Rechtsstaat befreit.

Das deutsch-osmanische Kriegsbündnis vor 100 Jahren kannte keinen Menschenrechtskatalog. Sein dramatischer "Kollateralschaden" war das Schicksal der Armenier. Auch daran kann man am kommenden Sonntag denken.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2018
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