Süddeutsche Zeitung

Türkei:Schicksalsjahr

Den Zusammenhalt in der Bevölkerung gibt es nicht.

Von Mike Szymanski

Niemand werde sein Land auf die Knie zwingen, versichert der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nach den neuen Terroranschlägen. Aber die Ersten gehen schon zu Boden. In Istanbul wurde ein Mann krankenhausreif geschlagen, den die Angreifer fälschlicherweise für den Attentäter aus der Silvesternacht hielten. Der Modedesigner und Schwulenaktivist Barbaros Şansal bekommt auf dem Istanbuler Flughafen Prügel von Nationalisten und Islamisten, weil er in seiner Verbitterung über die Türkei hergezogen hatte. Die Terroristen haben viel mehr erreicht, als Erdoğan eingestehen mag: Angst und heiße Wut regieren in der Türkei.

Es gab die Hoffnung, dass das Land unter Führung von Erdoğans islamisch-konservativer AKP Vorbild für die arabische Welt sein könnte. Das funktionierte allenfalls in den ersten Jahren. Spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli kann davon keine Rede mehr sein, als Erdoğan die Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe zuließ und der Rechtsstaat ausgehöhlt wurde. Den Zusammenhalt in der Bevölkerung, den Erdoğan beschwört, gibt es nicht.

Ärger, Druck und Gewalt spürt die Türkei heute von allen Seiten. Gleichzeitig dürfte sich das Land noch nie so auf sich allein gestellt gefühlt haben. Ankara sieht sich in Vertrauenskrisen mit den Vereinigten Staaten und mit Europa und dient sich lieber Russland an. Womöglich könnte mit 2017 das Schicksalsjahr für die Türkei angebrochen sein.

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Quelle:
SZ vom 07.01.2017
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