Süddeutsche Zeitung

Türkei:Mehr als neun Jahre Haft für türkische Oppositionelle

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Von Christiane Schlötzer, Istanbul

In letzter Minute wurde die Anklage noch um ein Gedicht von Nazım Hikmet bereichert, der türkische Dichter, gestorben 1963, ist ein Volksheld, er hat viele Jahre seines Lebens im Haft verbracht. Canan Kaftancıoğlu, Chefin der säkularen Partei CHP in Istanbul, hatte Hikmet zitiert. Das war im Juli, da stand sie schon zum zweiten Mal vor Gericht, wegen 35 Tweets aus den Jahren 2012 bis 2017. Am Freitag, dem dritten Verhandlungstag, sprach das Gericht sein Urteil: Neun Jahre, acht Monate und 20 Tage Haft. Wegen Präsidentenbeleidigung, Erniedrigung der Türkischen Republik und Terrorpropaganda. Und weil sie "keine Reue" gezeigt habe - und wegen des Gedichts mit der Zeile: "Warum soll ich den Diener schlagen, wenn ich auf den Herr wütend bin". Die Verteidigung hatte sich auf die Meinungsfreiheit berufen.

Nach dem Urteil herrschte schockartige Stille in dem völlig überfüllten Gerichtssaal. Zunächst war unklar, ob die CHP-Chefin sofort verhaftet würde. Sie bleibt auf freiem Fuß, mindestens bis zur Entscheidung des Kassationsgerichts, das dafür sechs Monate Zeit hat. Die Anklage wurde im Mai erhoben. Für die CHP war es deshalb ein politischer Prozess. Denn Kaftancıoğlu, 47 Jahre alt und von Beruf Medizinerin, gilt als die Frau, die maßgeblich für den Erdrutschsieg ihres Parteifreundes Ekrem Imamoğu bei der Istanbuler Oberbürgermeisterwahl verantwortlich ist. Sie hatte den davor weitgehend unbekannten Kommunalpolitiker durchgeboxt und seine Kampagne mitentworfen. Der Verlust der Metropole Istanbul nach 25 Jahren konservativer Herrschaft war ein schwerer Schlag für Erdoğan.

In ihrem Schlusswort sagte Kaftancıoğlu, sie werde sich weiter frei äußern und kämpfen, bis "die Vormundschaft" des Palastes ende. Nach dem Urteil zitierte sie erneut das Hikmet-Gedicht vor dem Gerichtsgebäude. Dort hatten schon am frühen Morgen hunderte Menschen ihre Solidarität mit der CHP-Chefin gezeigt. Auf Plakaten stand: "Die Frau ist nicht einzuschüchtern, meine Herren, lasst sie in Frieden." Der Verhandlung folgten auch zahlreiche ausländische Diplomaten, ebenso wie die SPD-Bundestagsabgeordnete Aydan Özoğuz. Sie sagte der Süddeutschen Zeitung, das Urteil wirke auf sie "wie ein großer Einschüchterungsversuch". Auch Bürgermeister Imamoğlu war zeitweise als Zuschauer im Saal.

Noch während des Prozesses wurde eine Äußerung von Innenminister Süleyman Soylu bekannt. Soylu sagte, er werde am Sonntag in einer Fernsehsendung bekanntgeben, ob auch Istanbul einen "Zwangsverwalter" bekomme, wie mehrere große Städte im Südosten des Landes, wo im August kurdische Bürgermeister ihres Amtes enthoben und Stadträte aufgelöst wurden. Dass die Regierung dies auch in Istanbul wagen würde, bezweifelten CHP-Politiker in ersten Reaktionen. Imamoğlu reagierte nur kurz und knapp: Er sagte, er werde sich auf keine Polemik einlassen.

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SZ vom 07.09.2019
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