Süddeutsche Zeitung

Arbeitnehmerrechte:Die Demokratie darf nicht am Betriebstor enden

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Der Fall Tönnies zeigt: Gerade im Niedriglohnsektor braucht es mehr wirtschaftliche Bürgerrechte.

Gastkommentar von Oliver Nachtwey

Im Internet kursiert ein Amateurvideo von Clemens Tönnies, er gibt darin ein Lied von Udo Lindenberg zum Besten: "Und ich mach mein Ding, egal, was die andern sagen." So hat er es auch in seinen Schlachthöfen gehalten. Schon lange sind die in Teilen erschreckenden Arbeitsbedingungen in der Schlachtindustrie, aber auch in der Logistik oder bei Erntehelfern, bekannt. Die Arbeit ist hart und häufig prekär. Regelmäßig werden die geltenden Standards des Arbeits- und Gesundheitsschutzes unterschritten. Alles längst bekannt, nur gehandelt hat niemand. Nicht die Arbeitgeber, nicht die Politik.

Vielleicht liegt es auch daran, dass in jenen Bereichen viele Migranten und ausländische Saison- oder Werkvertragsarbeiter schuften, die sich wenig Gehör verschaffen können. Mit den Corona-Ausbrüchen ist jedoch klar geworden: Der mangelnde Arbeits- und Gesundheitsschutz ist kein lokales Problem in einzelnen Betrieben, sondern eine öffentliche Gefahr. Jetzt will die Bundesregierung endlich handeln und zum Beispiel Werkverträge in Fleischfabriken verbieten. Das ist ein richtiger Schritt, aber er wird nicht reichen.

Kaum eine andere Beschäftigtengruppe wird derart schlecht behandelt, ja ausgebeutet wie die Werkvertragsarbeiter in den Schlachthöfen. Bereits vor 80 Jahren hat Bertolt Brecht ein Stück über die Misere in den Schlachthöfen Chicagos geschrieben. Bis heute lebt diese Tradition fort. Die gesetzliche maximale Arbeitszeit wird regelmäßig überschritten, der Takt ist hoch und der Schutz gering. Betriebsräte gibt es kaum, in der Regel fungiert der Vorarbeiter als Antreiber und Ansprechperson zugleich. Nach der Arbeit geht es für die Beschäftigten in die überfüllten Gemeinschaftsunterkünfte, deren überhöhte Miete von ihrem Lohn direkt abgezogen wird.

Mit dem Verbot von Werkverträgen wird nur eine bislang legale Form untersagt, aber nicht das Prinzip außer Kraft gesetzt. Dieses ist von viel grundsätzlicherer Natur, es existiert breit gestreut im gesamten Niedriglohnsektor: Die Einkommen sind niedrig, der Beschäftigungsstatus unsicher, Beschäftigte haben nur wenige Möglichkeiten, ihre Beschwerden vorzubringen oder sich gewerkschaftlich zu organisieren. Viele arbeiten in lediglich formal getrennten, kleinen Betriebseinheiten oder als Selbständige - wodurch die Wahl von Betriebsräten erschwert wird.

Warum ist das so? In den vergangenen 30 Jahren hat die Liberalisierung des Arbeitsmarktes dazu geführt, dass Jobs mit niedrigem Einkommen, die häufig auch noch unsicher sind, stark zugenommen haben. Der mangelnde Arbeits- und Gesundheitsschutz hat jedoch woanders seine Ursache: in der Unternehmensverfassung. Im Innern sind Unternehmen so etwas wie eine "private Regierung", wie es die US-Philosophin Elizabeth Anderson genannt hat. Die Beschäftigten treten zwar freiwillig (dies allerdings nur halb, denn sie brauchen ja einen Job) in das Unternehmen ein, aber mit Abschluss des Arbeitsvertrages unterliegen sie dem Direktionsrecht des Arbeitgebers. Die Unternehmen verfügen, wie man sich auf der Arbeit zu kleiden hat, durchsuchen den Mailverkehr ihrer Mitarbeiter und bestimmen, wie mit Gefahren am Arbeitsplatz umgegangen wird. Bei Amazon wird fast jede Bewegung der Beschäftigten überwacht.

Eine "öffentliche Regierung" für die Wirtschaft gibt es schon - sie ist aber durch den Neoliberalismus zerstört worden

Arbeit ist in einer modernen Gesellschaft jedoch keine rein private Angelegenheit mehr. Anderson fordert deshalb, die private Regierung durch eine öffentliche zu ersetzen. Solch eine öffentliche Regierung gibt es eigentlich schon, sie ist jedoch durch den Neoliberalismus unter die Räder gekommen: Die gesetzlichen Regelungen für Arbeits- und Gesundheitsschutz sind auf dem Papier recht gut - sie werden jedoch zu wenig umgesetzt. Die Gewerbeaufsicht hat wegen der Sparpolitik der vergangenen Jahre ihre Kontrollen massiv zurückgefahren. Gewerkschaften und Betriebsräte bewirken nur wenig und sind im Niedriglohnsektor zu schwach.

Es lohnt sich, an dieser Stelle grundsätzlicher über das Problem nachzudenken. Mitte des 20. Jahrhunderts diagnostizierte der britische Soziologe T. H. Marshall am Beispiel der Entwicklung Großbritanniens einen grundlegenden Fortschritt, was die Entwicklung der Bürgerrechte in der Arbeitsgesellschaft betrifft. Zuerst seien die zivilen Rechte entstanden: Redefreiheit, freie Berufswahl, Vertragsfreiheit, Recht auf Eigentum. Später sei das allgemeine Wahlrecht hinzugekommen. Mit dem Sozialstaat wurden laut Marshall auch soziale Bürgerrechte etabliert, die ein Mindestmaß an Wohlfahrt und Sicherheit garantierten. In diesem Kontext sah er auch wirtschaftliche Bürgerrechte, die er durch die kombinierten Erfolge von Gewerkschaften und staatlicher Sozialpolitik gewährleistet glaubte: Der betriebliche Despotismus sei zurückgedrängt worden, auch in Unternehmen existiere nunmehr eine Kombination aus zivilen, politischen und sozialen Bürgerrechten. Aus seiner Sicht wurde mit diesen Prozessen die "Fußbodenhöhe im Keller des sozialen Gebäudes" angehoben.

Dieser historische Optimismus sollte sich nicht erfüllen. Im Niedriglohnsektor ist Wasser in den Keller gelaufen, die Fundamente werden unterspült. Vor allem dort brauchen wir einen neuen Anlauf für wirtschaftliche Bürgerrechte. Und diese müssen für alle Menschen gelten, die hier arbeiten. Bürgerrechte, die man an die Staatsbürgerschaft bindet (wie es sich Marshall noch vorgestellt hatte), würden nur neue Ausschlüsse produzieren.

Für die Saisonarbeiter und die Beschäftigten in der Fleischindustrie bräuchte man Ombudsstellen, wo ihre Sprache gesprochen wird und wo sie im Alltag Mängel melden können. Allgemeine zeitgemäße wirtschaftliche Bürgerrechte würden aus einem ganzen Bündel von Faktoren bestehen: etwa einem existenzsichernden Mindestlohn, einer vernünftigen Grundsicherung, besser abgesicherten Arbeitsverhältnissen, einem Arbeits- und Gesundheitsschutz, der durchgesetzt wird, und vor allem mehr Teilhabe an der Gestaltung des Arbeitsplatzes. Demokratie darf nicht mehr am Betriebstor haltmachen, egal, ob dieses der Eingang zu einem Schlachthof oder virtuell der Algorithmus eines Plattformunternehmens ist.

Oliver Nachtwey ist Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel. Er forscht zum digitalen Kapitalismus, neuen Autoritarismus und zum Wandel der Arbeitsgesellschaft.

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SZ vom 04.07.2020
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