Süddeutsche Zeitung

Tiergarten-Mord:In Seelenruhe abgedrückt

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Der zweite Tag des Tiergarten-Mordprozesses: Zwei Zeugen beschreiben den Mörder als seltsam gelassen. Einer sah ihn sogar ein zweites Mal schießen.

Von Julia Bergmann, Berlin

Heißer Augusttag, eine Verabredung zum Mittagessen. Im Restaurantgarten war alles friedlich. Dann plötzlich dieser Knall. "Da schießt doch einer", hatte die Bedienung noch gesagt und bald rannten alle los. Ins Innere des Restaurants. In Sicherheit. So erinnert sich Andreas H. während der Fortsetzung der Hauptverhandlung zum Tiergartenmord vor dem Berliner Kammergericht am Donnerstag.

Als H. später aus dem Restaurantfenster schaute, will er nur noch einen Mann gesehen haben, auf dem Boden liegend, einen Georgier tschetschenischer Abstammung, wie sich später herausstellen sollte. Neben ihm vermutlich der russische Staatsangehörige Wadim Nikolajewitsch K., dem die Generalbundesanwaltschaft vorwirft, den Georgier im Auftrag der russischen Regierung ermordet zu haben. Das Opfer war von russischen Behörden als Terrorist eingestuft worden. Der Täter, so sagt H., habe in Seelenruhe neben dem Opfer gestanden. Sei dann gemütlich zum Fahrrad gegangen und gefahren. Die Waffe habe er zuvor, ohne jede Eile, in eine Tasche gesteckt. Oder einen Rucksack? Und wo genau befand sich der? Je mehr Richter, Anklage und Verteidigung nachfragen, desto unsicherer wird H.. Erinnerungen sind trügerisch. Zumal, wenn sie über ein Jahr zurückliegen und wenn sie über den Ausgang eines Prozesses entscheiden könnten, der nicht nur einen Mord verhandelt, sondern in gewisser Weise die Zukunft deutsch-russischer Beziehungen. Solche Unsicherheiten sind selbst in weniger brisanten Prozessen keine Seltenheit.

Das Außenministerium in Moskau lässt verlauten, dass es nicht mit objektiver Aufklärung rechnet

Aber hatte H. die Waffe überhaupt gesehen? Das fragt Verteidiger Robert Unger schließlich. In der ersten polizeilichen Vernehmung, habe der Zeuge das nämlich verneint. "Im Zweifel gilt die Aussage vor der Polizei", sagt H. Es sei schon alles so lange her. Das sagt auch Thorsten F., der zweite Zeuge an diesem Tag, immer wieder. Anders als H. habe er die eigentliche Tat beobachten können. Der Knall, der Mann auf dem Boden, der andere neben ihm. Die seltsame Gelassenheit, mit welcher er die Waffe auf den Kopf des Opfers richtete und ein zweites Mal abdrückte.

Weitere Zeugen werden bei der Fortsetzung am 27. Oktober gehört. Moskau ließ über die Sprecherin des Außenministeriums verlauten, es rechne nicht mit einer objektiven Aufklärung der Tat. Es gebe keine Zweifel, dass am Ende des Verfahrens die Schuld für die tödliche Attacke russischen staatlichen Strukturen zugeschrieben werde, wie dies bereits in der Presse geschrieben worden sei.

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SZ vom 09.10.2020
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