Süddeutsche Zeitung

Thomas Erskine Mays Handbuch:Alles reine Auslegungssache

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Ein 175 Jahre altes Buch gibt dem britischen Parlament seine Regeln.

Von Cathrin Kahlweit, London

Thomas Erskine May war der erste Baron Farnborough. Er bekam den Adelstitel nach der Pensionierung als Dank für außerordentliche Dienste am Königreich, starb aber leider eine Woche nach Erlangung des Titels. Da er keine Nachkommen hatte, wurde die Baronie wieder abgeschafft. Gleichwohl wurde Thomas Erskine May, der unter Queen Victoria als einfacher Bibliotheksassistent in den Dienst der Krone trat, unsterblich.

Er verfasste nämlich 1844 ein Handbuch, einen Folianten mit Benimmregeln, den man am ehesten als Knigge oder Bibel des britischen Parlaments bezeichnen könnte: den "Erskine May". Kenner betrachten das Werk als maßgeblichen schriftlichen Beitrag zu Großbritanniens ungeschriebener Verfassung. Erskine May steigt zum obersten Beamten der Parlamentsverwaltung auf. Offiziell hieß das Werk, das jahrhundertelang nur Eingeweihte und Experten zu sehen bekamen, "A Treatise upon the Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliament", als Titel fast so undurchdringlich wie das Gestrüpp von Regeln, Präzedenzfällen, Initiativen und Reformen, die sich in der Publikation über Prozeduren und Konventionen im Unter- und Oberhaus spiegeln.

Parlamentssprecher Bercow fand, es sei Zeit, den "Erskine May" zugänglich zu machen - online

Anfang Juli nun wurde der Erskine May online gestellt - und ist so erstmals in der Geschichte des Landes für die Öffentlichkeit problemlos zugänglich. Die Printausgabe, immer schnell vergriffen, kostete stolze 330 Pfund. Parlamentssprecher John Bercow, der seinen Anteil daran hatte, dass die 25. Auflage jetzt auf der Parlaments-Webseite zugänglich ist, zeigte sich hoch erfreut: Schließlich existierten parlamentarische Praxis und Prozeduren "ja nicht in einem Vakuum". Nun also können sich Bürger ein Bild machen, die wissen wollen, was die gesetzlichen Hintergründe für die schwer nachvollziehbaren Machtkämpfe zwischen Regierung und Parlament sind und wie Streit über Verfahrensregeln im Unterhaus zu schlichten wäre. Oder ob Sprecher John Bercow vielleicht ein heimlicher Revolutionär ist.

Darf eine aktuelle Stunde, von der Opposition beantragt, mit einer Abstimmung enden? Dürfen Abgeordnete eigene Gesetze einbringen, die nicht auf der Tagesordnung des Unterhauses standen? Dürfen Gesetze wieder und wieder zur Abstimmung gestellt werden, wenn sie schon durchgefallen sind? Welche Regeln darf das Parlament brechen, wenn die Regierung die Regeln bricht? Lauter Fragen, die im Leben außerhalb des Westminster Palace kaum jemand beantworten kann: Im berühmten parlamentarischen Handbuch, das auch viele Commonwealth-Länder anwenden, gibt es zumindest Hinweise. Jedoch ist da stets noch die Frage, wie man sie auslegt.

Ein früherer Verwaltungschef des Unterhauses, David Katzler, weist im Vorwort zur Online-Ausgabe, recht verklausuliert, auf Querelen hin, die mit Auslegung und Anwendung des Kodex in den vergangenen Monaten verbunden waren: "Natürlich haben die Implikationen des Ergebnisses des Referendums von 2016 über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU den parlamentarischen Alltag dominiert und eine Anpassung der Kontrollmechanismen und Praktiken in beiden Häusern nötig gemacht."

Katzler meint das womöglich eher legalistisch, nicht politisch. Aber hochpolitisch war der Streit um die teils freie oder zumindest innovative Auslegung des Handbuchs eben doch, wie sie das Team um John Bercow in den vergangenen Monaten betrieb. Die Financial Times nennt Bercow den "parlamentarischen Schiedsrichter", der anhand des Erskine May über den Brexit mitbestimme. Der Telegraph, publizistische Stimme des Brexit und der konservativen Tories, wirft dem Parlamentssprecher empört vor, er "kollaboriere" mit den Rebellen, die den Brexit verhindern wollten, breche ungeschriebene wie geschriebene Regeln, indem er die Gebote der Regierung schlicht ignoriere. So habe er die von der Regierung kontrollierte Tagesordnung im Unterhaus torpediert, indem er zuließ, dass Hinterbänkler ein Gesetzgebungsverfahren anschoben.

Warum das wichtig ist? Hätte Parlamentssprecher Bercow das nicht erlaubt, hätte die Opposition vielleicht nie die Chance gehabt, ihr Gesetz einzubringen, mit dem ein No Deal verhindert und Premier Boris Johnson zur Beantragung einer Brexit-Verschiebung gezwungen wird. Der hat aber in der Mail on Sunday trotz allem Widerstand angekündigt. Er werde das Unterhausvotum ignorieren, sagte er, und verglich sich mit der Filmfigur Hulk: "Je wütender Hulk wird, desto stärker wird Hulk." Bleibt er dabei, würde auch der Erskine May, ob online oder gedruckt, nicht mehr helfen. Dann müssten wohl erneut die Gerichte ran.

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Quelle:
SZ vom 17.09.2019
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