Süddeutsche Zeitung

SZ-Interview mit Wolfgang Clement:"Wir können wieder Vollbeschäftigung erreichen"

Lesezeit: 7 min

Der Wirtschaftsminister glaubt an den Erfolg von Hartz IV und geht sogar davon aus, dass die Arbeitslosigkeit bis 2010 halbiert sein wird. Die vergangenen drei Jahre hält er für die schwierigsten der letzten Jahrzehnte.

Interview: Nina Bovensiepen und Ulrich Schäfer

SZ: Herr Clement, ein Jahr der Reformen geht zu Ende. Hartz IV wurde verabschiedet, die Tarifparteien haben Erstaunliches geleistet, die Wirtschaft wächst. Trotzdem sind die Deutschen voller Pessimismus. Verstehen Sie das?

Clement: Überhaupt nicht. Aber ich sehe, dass sich die Stimmung wandelt. Wir sind dabei, uns aus dem Jammertal herauszuarbeiten.

SZ: Warum ist das Jammern hier zu Lande so populär?

Clement: Es gehört wohl zu unserem Volkscharakter: Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Allerdings waren die vergangenen drei Jahre ökonomisch auch die schwierigsten der letzten Jahrzehnte. Es ist klar, dass diese Zeit ohne Wachstum Spuren hinterlässt.

SZ: Die Meldungen aus den Betrieben sind deprimierend: Opel und Karstadt in der Krise, Lohnverzicht bei VW oder Siemens. Wie soll man da fröhlich sein?

Clement: Weil es auch viele positive Botschaften gibt, die zu wenig wahrgenommen werden: Die Zahl der Firmengründungen ist größer als die der Insolvenzen, die Binnenkonjunktur zieht an, Deutschland ist Exportweltmeister. Das alles stelle ich gegen den Pessimismus.

SZ: Ludwig Erhard hat gesagt, die Hälfte der Wirtschaft sei Psychologie. Was kann sein Nachfolger hier tun?

Clement: Meine wichtigste Aufgabe als Wirtschaftsminister ist, die Eigenkräfte der Wirtschaft zu stärken. Runter mit Gesetzen, den Verordnungen, den staatlichen Weisungen. Wir müssen das Vertrauen in die eigenen Kräfte und die Autonomie der Menschen stärken.

SZ: Sind wir zu staatsgläubig?

Clement: Ja. Es wird überall weniger Bürokratie gefordert, aber ständig nach neuen Gesetzen gerufen. Es zeugt von Misstrauen in die Bürger, wenn man alle Nase lang nach dem Staat verlangt. Ich beobachte das flächendeckend, unabhängig von der politischen Couleur.

SZ: Vielleicht liegt es daran, dass Erhard "Wohlstand für alle" versprechen konnte. Sie dagegen schaffen mit Hartz IV das Gegenteil: "Armut für alle".

Clement: Das stimmt nicht annähernd. Hartz IV ist eine der entscheidenden Strukturreformen für mehr Wachstum und Beschäftigung. Das Ziel unserer Agenda 2010 heißt "Arbeit für alle", und das ist erreichbar.

SZ: Werden die Arbeitslosen Ihnen das jemals glauben?

Clement: Wir wollen mit unserer Arbeitsmarktreform einen Mentalitätswandel bewirken. Ich hoffe, dass wir das schon in der ersten Jahreshälfte bei den jungen Leuten schaffen. Wir machen jedem der etwa 500000 Jugendlichen, die derzeit arbeitslos sind, ein Angebot, entweder auf Ausbildung, auf Arbeit, ein Praktikum oder eine andere Qualifikationsmaßnahme. Aber klar ist auch: Ausreden werden nicht mehr akzeptiert, wenn ein Angebot abgelehnt wird.

SZ: Die meisten Jobs, die durch Hartz IV entstehen, werden mies bezahlt sein. Kann ein Hochlohnland wie Deutschland von Ein-Euro-Jobs leben?

Clement: Natürlich nicht. Aber die Zusatzjobs, von denen Sie sprechen, sind doch nur ein Hilfsmittel, um Menschen, die teils über Monate und Jahre keinen Kontakt mehr zur realen Arbeitswelt hatten, wenn irgend möglich wieder eine Chance für den ersten Arbeitsmarkt zu verschaffen.

SZ: Anstatt die Arbeitslosen zur Aufnahme von Ein-Euro-Jobs zu zwingen, könnten diese sich ja auch freiwillig eine Stelle suchen. Aber wer macht das schon, wenn er von jedem Euro Zuverdienst gerade 15 bis 30 Cent behalten darf?

Clement: Ich habe sehr viel Verständnis für die Kritik an den engen Zuverdienstmöglichkeiten, die für Arbeitsuchende bei 400-Euro-Nebenjobs gelten. Ich muss aber das Ergebnis respektieren, auf das wir uns im Vermittlungsausschuss geeinigt haben. Wir werden sehr rasch sehen, ob man an dieser Stelle Korrekturen vornehmen muss...

SZ: ...sehr rasch heißt?

Clement: Im Prinzip braucht man mindestens ein Jahr, um fundierte Erkenntnisse über Hartz IV gewinnen zu können. Wir werden sehen, ob es zu diesem besonderen Aspekt auch schneller geht.

SZ: Wie könnte die Neuregelung aussehen?

Clement: Es sollte für Arbeitsuchende einen Anreiz geben, gegebenenfalls auch einen 400-Euro-Job anzunehmen. Dieser Anreiz ist heute sehr knapp bemessen, er sollte aber auch nicht so großzügig sein, dass es für die Betroffenen keinen Sinn mehr machen könnte, einen Job im ersten Arbeitsmarkt zu suchen.

SZ: Wo werden Sie bei Hartz IV sonst noch nachbessern?

Clement: Ich will jetzt nicht ankündigen, was wo zu verbessern sein könnte. Ich will ankündigen, was wir umsetzen. Es sind im Zusammenhang mit dieser Reform schon viele Katastrophen beschrieben worden, nichts davon ist eingetreten.

SZ: Erwarten Sie eine neue Protestwelle Anfang des Jahres?

Clement: Dafür gibt es keinen Grund. Mein Eindruck ist, dass immer mehr Menschen verstehen, dass wir mit den Arbeitsmarktreformen niemanden bestrafen wollen. Richtig ist, dass wir versuchen, alle Menschen, die arbeitslos sind, in Jobs zu vermitteln.

SZ: Gerade daran gab es zuletzt Zweifel. Die Nürnberger Bundesagentur sei überlastet und könne das Vermittlungsproblem nicht lösen, wurde kritisiert.

Clement: Natürlich konnte die Vermittlung noch nicht auf Hochtouren laufen, während erst einmal die Anträge auf Arbeitslosengeld II bearbeitet werden mussten. Aber das ändert sich. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Agenturen leisten hervorragende Arbeit. Sie werden sehen: Alles wird anders, alles wird schneller, und von Region zu Region wird von Tag zu Tag auch die Vermittlungsarbeit besser. Das wird sich zuallererst zugunsten der jungen Arbeitsuchenden auswirken.

SZ: Wie hoch darf die Arbeitslosenzahl 2006 sein, damit die Regierung bei der Wahl eine Chance hat?

Clement: Ich lasse mich auf keine Zahl festnageln. Wichtig ist, dass wir die Trendumkehr schaffen und die Arbeitslosigkeit spürbar zurückgedrängt wird.

SZ: Halten Sie es tatsächlich für realistisch, dass es, wie von Ihnen angestrebt, bis 2010 wieder Vollbeschäftigung gibt?

Clement: Ja, natürlich. Eine einigermaßen vernünftige Entwicklung der Weltwirtschaft vorausgesetzt, können wir Vollbeschäftigung erreichen, mit einer gewissen Sockelarbeitslosigkeit, die zwischen drei und fünf Prozent liegt. Wir werden zum Beispiel schon bald einen großen Mangel an Facharbeitern haben.

SZ: Woher aber soll das nötige Wachstum kommen? Wollen Sie etwa wie die USA ein Konjunkturprogramm auflegen und die Staatsausgaben erhöhen?

Clement: Das ginge in Deutschland nur unter zwei Bedingungen. Erstens: Es darf nicht zu Lasten der Reformen gehen. Zweitens: Es darf nicht gegen die Vorgaben des Stabilitätspaktes verstoßen. Wir können nicht ständig ausbüchsen, ob uns die Maastricht-Kriterien nun passen oder nicht.

SZ: Die Regierung kann also nichts tun, um den Konsum anzukurbeln?

Clement: Wir tun doch eine Menge. Wir haben schon jetzt einen Mix aus Angebots- und Nachfragepolitik. Der nächste Schritt der Steuerreform tritt im Januar in Kraft, und die Lohnnebenkosten werden gerade für die Betriebe weiter sinken. Und die sonstigen Reformen Bürokratieabbau, mehr Einsatz für Bildung, Wissenschaft und Forschung gehen auch weiter.

SZ: Die Unternehmen haben, anders als Sie, sehr viel Geld. Erwarten Sie, dass die Konzerne ihre Rekordgewinne nun für Investitionen in Deutschland nutzen?

Clement: Nicht wenige Unternehmen haben zuletzt schon wieder mehr investiert, ihr Vertrauen in den Standort wächst. Aber natürlich erwarte ich von Unternehmen, die hier groß geworden sind, dass sie wissen, was sie Land und Leuten schuldig sind.

SZ: Ihren Optimismus in Ehren: Aber die Institute revidieren Ihre Wachstumsprognosen für 2005 gerade nach unten. Werden Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht Mitte Januar folgen?

Clement: Wir werden uns voraussichtlich in dem Korridor bewegen, den wir im Herbst vorhergesagt haben: eineinhalb bis zwei Prozent. Die Institute bewegen sich im Moment übrigens in einem Prognosekorridor zwischen 0,8 und zwei Prozent. Das wirkt weder wissenschaftlich überzeugend noch hilfreich.

SZ: Industriepräsident Michael Rogowski behauptet, ein Wirtschaftswunder sei nur möglich mit Hartz V bis VIII: mit Niedriglöhnen, längeren Arbeitszeiten, weniger Kündigungsschutz. Ist das auch ihr heimliches Programm?

Clement: Ich schließe weitere Reformschritte am Arbeitsmarkt nicht aus. Aber ich sage Herrn Rogowski auch: Jetzt müssen wir erst mal das ins Werk setzen, nämlich Hartz IV, was wir uns vorgenommen haben. Dann sieht die Arbeitswelt schon ganz anders aus. Man kann übrigens auch über seine eigenen Beine stolpern.

SZ: Die Föderalismus-Kommission ist gerade über ihre Beine gestolpert. Ist das Land zu weiteren Reformen noch fähig?

Clement: Die Reform des Föderalismus darf nicht scheitern. Wir verlangen von allen Menschen sehr viel Veränderungsbereitschaft. Da kann die Politik nicht sagen, dass sie das absolut Notwendige nicht schafft. Es gibt keine wichtigere Reform gerade auch für die weitere Entwicklung der Wirtschaft. Mehr Investitionen, mehr Kraft und Phantasie in Bildung, Wissenschaft und Forschung, das ist die wichtigste nationale Aufgabe, die wir vor uns haben. Dadurch schaffen wir auf Dauer die entscheidende Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand.

SZ: Was erwarten Sie konkret von der Föderalismus-Reform?

Clement: Heute arbeiten Unternehmen, Verbände und die Bundesagentur für Arbeit hinter der Schule her. 491000 junge Leute stecken derzeit in Sondermaßnahmen der Bundesagentur. Wir reparieren im Nachhinein Dinge, die viel früher in Ordnung gebracht werden müssen. Wir müssen das, was die Bundesagentur macht, die Vorbereitung auf das Berufsleben, wieder in die Schule bringen.

SZ: Das letzte Jahr hat Ihnen viel Ärger eingebracht. Wird 2005 leichter?

Clement: Ich habe noch viel zu tun und werde weiter für die unabweisbar notwendigen Reformen arbeiten und gegebenenfalls kämpfen. Nächstes Jahr werden wir zum Beispiel die Dienstleistungsrichtlinie der EU beschließen, ein gewaltiges Projekt. Als in Europa die Warenmärkte geöffnet wurden, hat das Deutschland zweieinhalb Millionen neue Jobs gebracht. Einen ähnlichen Wachstumsschub erwarte ich, wenn nun auch der Servicesektor geöffnet wird.

SZ: Vorher müssen Sie aber erst mal Ihre eigene Partei und die Grünen überzeugen. Verbraucherministerin Renate Künast warnt vor Sozialdumping, wenn für ausländische Dienstleister nicht mehr die Vorschriften ihres Gastlandes, sondern die Regeln ihrer Heimat gelten?

Clement: Ich kenne die Einwände und nehme die meisten ernst. Aber es führt kein Weg daran vorbei, dass wir auch im Dienstleistungssektor unsere schreckliche Überregulierung überwinden müssen. Entscheidend ist doch, dass wir mit der Richtlinie geradezu eine Revolution im Bürokratieabbau erreichen und etwas tun, um Europa zu einem der wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsräume der Welt zu machen.

SZ: Damit steigern Sie nicht Ihre Beliebtheit in der SPD. Stört Sie das Image der sozialen Kälte, das Ihnen anhaftet?

Clement: Nein. Das geht in der Person und in der Sache an der Realität vorbei. Wer wie ich aus dem Ruhrgebiet kommt, der hat ein Gespür für Gerechtigkeit. Und mir konnte noch niemand sagen, was eigentlich sozial gerechter ist, als Menschen wieder in Arbeit zu bringen.

SZ: Bleiben Sie als Minister an Bord, wenn die SPD 2006 die Wahlen gewinnt?

Clement: Das müssen Sie den Kanzler fragen.

SZ: Vorher fragen wir Sie.

Clement: Ich mache meinen Job so lange gern, wie es gilt, die Wirtschaft wieder flott und den Arbeitsmarkt in Ordnung zu bringen.

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Quelle:
SZ vom 28.12.2004
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