Süddeutsche Zeitung

Südamerika:Die chilenische Zäsur

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Seit mehr als einem Monat gehen die Menschen wegen sozialer Ungleichheit auf die Straßen. Nun macht Präsident Piñera den Weg frei für eine neue Verfassung. Es wäre die endgültige Abkehr von der Pinochet-Ära.

Von Benedikt Peters, München

22 Tote, Tausende Verletzte, Millionen Demonstranten und Schäden in Milliardenhöhe: Das ist die vorläufige Bilanz der schlimmsten Krise, die Chile seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 erlebt. Auch nach einem Monat ebben die Proteste nicht ab, immer wieder gehen Menschen auf die Straße, es gibt blutige Zusammenstöße mit der Polizei. Die enorm unter Druck geratene Regierung des rechtsliberalen Präsidenten Sebastián Piñera versucht die Lage nun unter Kontrolle zu bringen, indem sie der wichtigsten Forderung der Demonstranten nachgibt. Nach 48 Stunden langen Verhandlungen einigte sie sich mit der Opposition darauf, den Weg für eine neue Verfassung frei zu machen. Dies ist eine historische Zäsur. Zum ersten Mal in der Geschichte dürften die Chilenen eine Verfassung bekommen, die demokratisch legitimiert ist.

Das Verfahren, das Senatspräsident Jaime Quintana am frühen Freitagmorgen ankündigte, sieht mehrere Schritte vor. Im April 2020 sollen die Chilenen über die alte Verfassung abstimmen, die aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammt. Ihre Abschaffung gilt als besiegelt, da 80 Prozent der Bevölkerung den Text ablehnt. In einer zweiten Frage sollen die Chilenen beantworten, wer die neue Verfassung erarbeiten soll: ein Konvent, der aus komplett neu gewählten Mitgliedern besteht - oder eine Versammlung, die paritätisch mit Parlamentsabgeordneten und Neugewählten besetzt ist. Über die Mitglieder soll im Oktober 2020 abgestimmt werden, diese sollen danach die Verfassung komplett neu schreiben, was zwischen neun und zwölf Monate dauern dürfte. Der neue Text könnte also Ende 2021 fertig sein. Dann müssen die Chilenen noch über ihn abstimmen. Chile steht damit vor einem langwierigen und komplexen Verfahren, an das zugleich viele Hoffnungen gebunden sind.

Die bisher gültige Verfassung hatte der damalige Diktator Augusto Pinochet 1980 unter aus demokratischer Sicht mindestens zweifelhaften Umständen durchgedrückt. Er ließ zwar eine Volksabstimmung abhalten, verbat den Gegnern des Entwurfs aber, zuvor für ihren Standpunkt Wahlkampf zu machen. So entstand damals ein Text, der ein ultraliberales Wirtschaftsmodell festschrieb, welches sich die "Chicago Boys" um den bekannten Ökonomen Milton Friedman ausgedacht hatten. Es reduziert die Rolle des Staates auf ein Minimum; um ärztliche Versorgung, gute Schulbildung und ein gutes Auskommen im Alter sollen sich die Chilenen im Wesentlichen selbst kümmern.

Auch nach der Rückkehr zur Demokratie blieb die Verfassung bestehen, da sie nur sehr schwer geändert werden konnte. Und so ist Chile bis heute ein Land, das zwar regelmäßig hohes Wirtschaftswachstum aufweist, aber auch eine der höchsten Ungleichheitsraten weltweit. Die Kinder der Reichen besuchen sehr teure Privatschulen, während sich viele weniger wohlhabende Chilenen kaum die Miete oder den Arztbesuch leisten können. Viele sind zudem tief verschuldet, zum Beispiel, weil die Studiengebühren extrem hoch sind. Seit Beginn der 2000er Jahre hatte es mehrmals Proteste gegen diese Zustände gegeben, eine große Welle erfasste das Land zum Beispiel 2011, als der Präsident wie heute Sebastián Pinera hieß. Auch damals forderten die Studenten eine neue Verfassung, was jedoch scheiterte, da der Protest zu schnell verebbte. Michelle Bachelet, die Chile von 2014 bis 2018 regierte, ließ zwar über einen neuen Text diskutieren, wurde dann aber abgewählt. Sie arbeitet jetzt bei den Vereinten Nationen.

Die Frage ist nun, ob das Verfassungsprojekt Chile tatsächlich befrieden kann. Piñeras Sofortmaßnahmen, etwa eine Erhöhung des Mindestlohns, hatten das nicht vermocht. Zudem wird es noch lange dauern, bis die neue Verfassung in Kraft tritt. Und schließlich haben Rechte und Wirtschaftsliberale in Chile nach wie vor viel Einfluss. Diesen dürften sie nutzen, um die Veränderungen so klein wie möglich zu halten.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2019
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