Süddeutsche Zeitung

Studentenbewegung:Wie Rudi Dutschke Jesus Christus pries

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Der Journalist Ulrich Chaussy hat die Biografie des Studentenführers erweitert - und dokumentiert Rudi Dutschkes Bezug zum Christentum.

Rezension von Rainer Stephan

Revolution?

Wunderbar.

Aber wer soll sie machen?

"Natürlich verkauft auch der Arbeiter Westeuropas seine Arbeitskraft. Er verkauft sie gut. Er hat heute mehr zu verlieren als seine Ketten." Rudi Dutschke hat es immer gewusst: Im spätkapitalistischen Westen sind Revolutionen unmöglich geworden. Aber selten hat er das so klar ausgedrückt wie im Tagebucheintrag vom 2. Februar 1963.

Gewöhnlich waren geradlinige, schlichte Sätze eher nicht seine Sache. Andauernd dachte er, und andauernd versuchte er das, was er dachte, in Worte zu packen. Auf Schönheit des Ausdrucks, gar auf Eleganz legte er es nie an. So kamen seine Sätze oft merkwürdig klobig, rissig oder verschachtelt daher.

Hauptsache, sie waren richtig, nicht selten schmerzhaft richtig: "Der Mensch zerstört seine tradierten Normen nur unter der Voraussetzung des Verbessern-Könnens seiner Lage. Ist die Lage gut, auch nur scheinbar gut, will er und wird er nichts riskieren."

Unfreiwillige Karikatur des deutschen Schachtel- und Bandwurmsatzes

Ulrich Chaussy, Verfasser der ersten, bereits 1983 erschienenen Dutschke-Biografie ("Die drei Leben des Rudi Dutschke") war diese nicht eben eingängige Redeweise schon damals nicht entgangen: "Doch, so spricht er", kommentiert Chaussy Dutschkes Wortkaskaden: "Die unfreiwillige Karikatur des deutschen Schachtel- und Bandwurmsatzes ist seine Redeweise."

Das wirkt nicht nur auf den ersten Blick merkwürdig. Bis heute bleibt schwer erklärbar, wieso ausgerechnet ein derart hartnäckiger Schwerdenker und Schwerformulierer zum Protagonisten der außerparlamentarischen Opposition werden konnte, der sein Publikum in Universitätssälen genauso mitriss wie auf Massendemonstrationen.

Chaussy zitiert Dutschkes Mitstreiter Frank Böckelmann, der damals in München lebte und wie andere lebenslustige Schwabinger Spaßrevoluzzer zunächst ziemlich irritiert auf den radikal ernsthaften Typen aus Berlin blickte: "Von Dutschke ging eine Atmosphäre der Fremdheit aus, die zugleich begeisternd war. Er hatte wenig im Sinn mit unserem Zynismus und unserer Art, alles mehr oder weniger spielerisch anzugehen. Er sprach unter vier Augen genauso wie in Veranstaltungen. Das vermittelte den Eindruck einer gewissen Starrheit."

Offenkundig geht es hier um den in Deutschland immerfort spürbaren Gegensatz zwischen Nord und Süd, und das heißt vor allem: Zwischen einem asketisch rechtgläubigen Protestantismus und einem im Vergleich dazu schon fast atheistischen Katholizismus, dessen sinnliche Lebenslust gern auch mal fünf gerade sein lässt.

Dieser Gegensatz drängt sich gerade hier als Aspekt auf, unter dem Dutschkes Rigorosität sich ebenso entschlüsseln ließe wie der Widerspruch zwischen der Befremdung und der Faszination, die gleichermaßen von ihm ausgingen - und die ihn innerhalb einer von vielfältigen Motiven geprägten Bewegung vereinzelt hatten, bevor die Folgen des Attentats vom 11. April 1968 ihn auch buchstäblich in die Fremde trieben, in die Schweiz, nach Italien, England und schließlich nach Dänemark.

Springers Volksfeind Nummer 1

Dass Revolution, ihre dauernde Notwendigkeit wie ihr ständig wiederkehrendes Scheitern, auch und vor allem eine Angelegenheit christlicher Theologie ist, war dem von der Arbeit in der evangelischen Jungen Gemeinde seines ostdeutschen Heimatorts Luckenwalde geprägten Dutschke immer bewusst geblieben.

"In diesen Stunden verschied der Welt größter Revolutionär, Jesus Christus", notiert der seit dem Mauerbau in Westberlin Studierende am Karfreitag des Jahres 1964, kurz vor seinem ersten politischen Protestauftritt, in sein Tagebuch. "Die nichtwissende Konterrevolution schlug ihn ans Kreuz. Christus zeigt allen Menschen einen Weg zum Selbst."

Schon in seiner ersten Biografie hatte Ulrich Chaussy diese und andere Äußerungen, die auf Dutschkes christlichen Hintergrund verweisen, sorgfältig registriert.

Aber eben, er hatte sie nur registriert, so wie er mit bewundernswertem Fleiß nahezu alles zusammengetragen und registriert hatte, was sich registrieren ließ: Dutschkes früh erkennbaren Hang zur Aufsässigkeit, damals den DDR-Schulbehörden gegenüber, die ihn deswegen nicht zum Studium zuließen, sein Ausweichen an die Westberliner Freie Universität, seine intensive Beschäftigung mit der soziologischen Theorie und dann seine unermüdlichen Anläufe, das theoretisch als notwendig Begriffene, die Revolution, auch in die Praxis umzusetzen, erst in einer Berliner Außengruppe der in München entstandenen "Subversiven Aktion" (aus ihr gingen die berühmten Kommunen hervor), dann im Sozialistischen Deutschen Studentenbund, dem SDS.

Mörderisch krakeelende Springer-Presse

Ebenso sorgfältig belegte Chaussy die vor allem von der mörderisch krakeelenden Berliner Springer-Presse immer wieder angeschobene Kampagne der veröffentlichten Meinung gegen die Studentenbewegung und den zum Volksfeind Nummer 1 erklärten Rudi Dutschke.

Ohne diese Hetze wäre es nie zu den letzten Endes, nach einer Verzögerung von elf Jahren, tödlichen Schüssen gekommen, mit denen der geistig eher beschränkte Rechtsnationalist Josef Bachmann der öffentlichen Laufbahn Dutschkes ein Ende setzte.

Im Jahr 1983 war Chaussys Arbeit eine immense Leistung. Dass sich der Biograf, gerade weil er sich dem einstigen Studentenführer damals nicht nur zeitlich nahe fühlte, stets um Distanz bemühte, ehrte ihn. Umso mehr war man nun auf die Neufassung des Buches gespannt - und, nach der Lektüre, enttäuscht.

Die alte Dutschke-Registratur wurde, gespeist vor allem durch neu erschlossene Geheimdienstquellen aus Ost und West, zur erweiterten Registratur, die das alte Konzept bis hin zur Kapitelaufteilung nahezu unverändert beibehält.

Nach wie vor streift der Journalist und Sachbuchautor Chaussy Dutschkes nicht öffentliches Leben nur am Rande, aus Respekt, wie er schreibt - nur kann so halt keine wirkliche Biografie zustande kommen. Neu hinzugekommen ist außer dem nützlichen Register ein Epilog, der rudimentäre Erklärungsansätze für Dutschkes Scheitern als Revolutionär enthält.

Doch kritische Analyse ist Chaussys Sache nach wie vor nicht; die großen Linien in Dutschkes Leben verschwimmen weiter in einer Flut von Details, die großen Widersprüche bleiben ungeklärt.

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Quelle:
SZ vom 05.03.2018
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