Süddeutsche Zeitung

Strafverfolgung:Doppelt hält besser

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Der Europäische Gerichtshof hat geklärt, unter welchen Bedingungen Europäische Haftbefehle ausgestellt werden dürfen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Es war ein kleiner Schreck für die deutsche Justiz. Seit Jahren hatte man die Erosion des Rechtsstaats in Ländern wie Polen und Ungarn kritisiert und die schwindende Unabhängigkeit der dortigen Gerichte beklagt - bis unversehens der Europäische Gerichtshof der deutschen Justiz mitteilte, ihre Staatsanwaltschaften seien nicht unabhängig genug, um in eigener Hoheit Europäische Haftbefehle ausstellen zu dürfen. Das war im Mai, und das Urteil des EuGH war keineswegs aus der Luft gegriffen. Staatsanwaltschaften unterliegen in Deutschland der Weisungsbefugnis des Justizministers. Und auch wenn die Minister davon angeblich kaum Gebrauch machen, eröffnet ihre bloße Existenz eine Möglichkeit, die man im internationalen Rechtsverkehr tunlichst ausschließen sollte: dass nämlich ein EU-Haftbefehl, der mit seinem europaweiten Auslieferungsautomatismus eine beträchtliche Schlagkraft hat, zu politischen Zwecken missbraucht werden könnte.

Das Bundesjustizministerium hat nach dem Urteil umgesteuert und die Länder darauf hingewiesen, dass es schon nach geltender Rechtslage möglich sei, die europaweite Ausschreibung zur Festnahme von Richtern ausstellen zu lassen. Nun hat der EuGH erneut über das für EU-Haftbefehle nötige Maß an Unabhängigkeit entschieden, und zwar in einem Fall, der Österreich betrifft. Der EuGH bekräftigt darin: Ohne maßgebliche Beteiligung einer unabhängigen Instanz ist der Erlass eines EU-Haftbefehls nicht erlaubt.

Angerufen hatte den EuGH das Kammergericht in Berlin, denn nach dem Urteil vom Frühjahr hatte es Zweifel bekommen, ob es einen von Österreich ausgeschriebenen gewerbsmäßigen Dieb überhaupt ans Nachbarland überstellen dürfe. Denn auch dort darf der Justizminister den Staatsanwälten Weisungen erteilen - ihre Unabhängigkeit ist mithin ebenso fragwürdig wie in Deutschland. Weil die Sache dringlich war - immerhin saß der Mann seit Mai in Untersuchungshaft - schickte das Kammergericht einen Eilantrag nach Luxemburg.

Der EuGH hat indes das österreichische System gebilligt. Und zwar deshalb, weil - anders als bis vor Kurzem in Deutschland - der Staatsanwalt die EU-weite Ausschreibung nicht allein verfügt. Das österreichische Gesetz über die Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen sieht vielmehr ein Bewilligungsverfahren vor, in dem ein Gericht die Rechtmäßigkeit und die Verhältnismäßigkeit des EU-Haftbefehls überprüft. Staatsanwälte und Richter entscheiden also gleichsam im Paarlauf, ob ein flüchtiger Straftäter fortan per EU-Haftbefehl gesucht werden darf. Und an der Unabhängigkeit der österreichischen Justiz hat der EuGH keinen Zweifel.

Das Bundesjustizministerium sieht sich nach Auskunft eines Sprechers durch das Urteil nun darin bestätigt, dass die inzwischen geänderte Praxis in Deutschland europarechtlich in Ordnung geht. Denn seit Mai stellt der Staatsanwalt lediglich einen Antrag - die Entscheidung über den EU-Haftbefehl trifft, ähnlich wie in Österreich, das Gericht. Zwar hat der EuGH bald noch einige weitere Verfahren zu dem Thema auf der Tagesordnung. Sollten sich dort aber keine neuen Aspekte ergeben, ist bezüglich der unabhängigen Beurteilung europäischer Haftbefehle in Deutschland wieder alles im Lot. Und zwar ohne Gesetzesänderung.

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Quelle:
SZ vom 10.10.2019
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