Süddeutsche Zeitung

Polnische Sicht:Steinbach - sie kann es leider nicht mehr ändern

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Der Satz, der Erika Steinbach zum Verhängnis wurde, stimmt im Kern: Polen hat im März 1939 Truppen mobilisiert - jedoch nur, weil es mit dem Rücken zur Wand stand. Steinbach, die besser ist als ihr Ruf in Polen, hat schon immer Sensibilität vermissen lassen. An ihrem Scheitern ist sie deshalb selbst schuld.

Arkadiusz Stempin

Arkadiusz Stempin, 46, ist ein polnischer Historiker. Er lehrt Geschichte an der Universität Freiburg und der Tischner European University in Krakau.

"Ich kann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobilgemacht hat." Dieser Satz Erika Steinbachs, der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen (BdV), war ein schwerer politischer Fauxpas, denn er wird weithin als Relativierung der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg interpretiert. Die CDU-Führung rief Steinbach zur Ordnung, stellte aber auch klar, dass sie die deutsche Schuld keineswegs in Frage stellen wollte.

Die Bundesregierung unter Angela Merkel ist stets bemüht, gegenüber den historisch überaus sensiblen Polen korrekt aufzutreten. Davon zeugte nicht zuletzt vor einem Jahr die Ansprache der Bundeskanzlerin zum 70. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen auf der Danziger Westerplatte. Dort waren am 1. September 1939 die ersten Schüsse gefallen.

Auf Wunsch Warschaus wurde überdies Steinbach aus dem Beirat der Stiftung "Flucht Vertreibung Versöhnung" ferngehalten, obwohl diese eigentlich ihr Kind ist. Wie wichtig für Berlin die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte ist, zeigt auch die Einrichtung des Deutschen Historischen Instituts in Warschau; solche Institute gibt es sonst nur noch in Washington, London, Rom, Paris und Moskau. Oder die Arbeit der Vertretungen der politischen Stiftungen der Bundesrepublik, die in Polen überaus segensreich wirken.

Dieser eine Satz scheint nun das Ende der politischen Karriere Erika Steinbachs zu beschleunigen. Dabei stimmt die Aussage in ihrem historischen Gehalt. Polen hat tatsächlich am 23. März 1939 seine Truppen zum Teil mobilgemacht. Rekruten wurden eingezogen und vier Infanteriedivisionen sowie eine Kavalleriebrigade entlang der Grenze zu Deutschland aufgestellt.

Doch wurde der Satz so verstanden, als wolle sie sagen, Polen habe entscheidend zur politischen Eskalation in Europa beigetragen und gewissermaßen einen Präventivschlag Hitlers unausweichlich gemacht; dieser sei also einem polnischen Angriff nur zuvorgekommen.

Um es kurz zu sagen: Im März 1939 stand Polen mit dem Rücken zur Wand, die Mobilmachung sollte den Deutschen das Risiko einer Aggression vor Augen führen. Darüber besteht kein Dissens unter Historikern beider Länder. Es kann daher nicht verwundern, dass der Satz einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hat. Erika Steinbach schien nun alle zu bestätigen, die immer vor ihrem Geschichtsrevisionismus gewarnt hatten.

Allerdings haben die polnischen Medien nie berichtet, dass Steinbach eigentlich immer die Schuld und Verantwortung der Deutschen unterstrichen hat, dass sie auch die Vertreibung als "Folge der Politik Hitlers" bezeichnet. Damit überwand sie das bis dahin geltende Geschichtsbild des BdV, bei dem der Krieg als Voraussetzung für die Vertreibung ausgeblendet worden war. Und ebenso blieb der polnischen Öffentlichkeit vorenthalten, dass Steinbach sich letztlich gegen Entschädigungsforderungen der Vertriebenen an die Adresse Warschaus ausgesprochen hat.

Doch ist sie gerade im Hinblick auf Polen in viele Fettnäpfchen getreten - sie hat der historischen Sensibilität der Polen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt und damit ihrem Anliegen letztlich selbst geschadet.

Aber es ist kaum anzunehmen, dass es mit dem Abgang Erika Steinbachs keine deutsch-polnischen Streitfragen mehr geben wird. Wenig hilfreich wäre es, in ihr die Hauptschuldige für all diese Spannungen zu sehen. Es stellt sich auch eine andere Frage: Warum konnten die zahlreichen deutsch-polnischen Institutionen und Gremien nicht verhindern, dass die Vertreibungsdebatte einen dunklen Schatten auf die Beziehungen zwischen beiden Gesellschaften geworfen hat?

Oder liegen die eigentlichen Gründe für die Spannungen viel tiefer? In der Tat dürften, völlig losgelöst von Erika Steinbach, ihre Ursachen in den unterschiedlichen Auffassungen vom Umgang mit der Geschichte zu suchen sein. Die Deutschen sehen zunehmend den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen als abgeschlossene Kapitel der Geschichte an. Die heutige Generation unterstreicht zwar in vielfältigen Erinnerungsritualen die deutsche Schuld und Verantwortung. Sie erwartet aber gleichzeitig, dass die Nachbarn anerkennen, sie sogar dafür loben, wie intensiv sie ihre kritische Vergangenheitsbewältigung betrieben haben.

Für die heutigen Polen sind dagegen die geschichtlichen Erfahrungen ihrer Vorfahren Teil ihrer Identität, darunter auch das Leiden der Kriegsgeneration unter dem deutschen Besatzungsterror. Ein Großteil der Polen ist davon überzeugt, dass der Staat eine Geschichtspolitik betreiben müsse: Durch Schulbücher, Museen und Denkmäler sollen Geschichtsbilder verfestigt werden, auf diese Weise soll vorbestimmt werden, wie künftige Generationen über die Vergangenheit denken. Dabei gibt es allerdings kaum Platz für einen kritischen Blick auf die Vergangenheit der Nation.

Erklären lässt sich diese Einstellung aus der kollektiven Erfahrung: Polen als Kulturnation hat die Zeit der Teilungen im 19. Jahrhundert und der Besatzungen im 20. Jahrhundert vor allem wegen seines historischen Gedächtnisses überhaupt überlebt. Der Begriff "Stolz auf die Geschichte der Nation" ist für die Mehrheit eine Selbstverständlichkeit, auch in der jungen Generation.

In Deutschland herrscht dagegen die Auffassung vor, eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte sei unabdingbar für eine aufgeklärte, moderne Gesellschaft. Nach der Wende von 1989 bestimmte anfangs auch in Polen dieser kritische Ansatz die historischen Debatten. Doch das Scheitern der zunächst regierenden liberalen und links eingestellten Gruppierungen führte auch zu einem Schwenk nach rechts im politischen Diskurs, der Sender Radio Maryja und die Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) der Kaczynski-Zwillinge wurden vorübergehend tonangebend. Eine Debatte über die Vertreibung, wie sie in den neunziger Jahren unter dem Motto "Müssen wir die Deutschen um Verzeihung bitten?" ja sehr aktiv in Polen geführt wurde, war in diesem Klima nicht mehr möglich.

Ohne die Einbindung der Vertriebenen in den deutsch-polnischen Dialog kann eine Aussöhnung zwischen beiden Gesellschaften nicht vollständig sein. Aus Sicht der Vertriebenen wurde Erika Steinbach in Polen sehr ungerecht behandelt. Doch nun, da sie selbst die politische Bühne verlässt, gibt es auch die Chance, dieses schwierige Kapitel gemeinsam aufzuarbeiten.

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Quelle:
SZ vom 13.09.2010
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