Süddeutsche Zeitung

Solidaritätszuschlag:Zweifel am Großprojekt

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Es ist nicht die erste Warnung vor einer partiellen Soli-Abschaffung. Doch nun hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages die Verfassungsmäßigkeit des geplanten Gesetzes bezweifelt. Das bringt das Kabinett in Nöte.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Der Streit um die partielle Abschaffung des Soli-Zuschlags wird schärfer. Unmittelbar vor den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen tauchen neue Zweifel am Großprojekt der Bundesregierung auf - geäußert vom wissenschaftlichen Dienst des Bundestages. In einem Gutachten "zur Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags" kommen die Experten zu dem Schluss, "dass jedwede Erhebung des Solidaritätszuschlags über 2019 hinaus - sei es auch nur von höheren Einkommensgruppen und Unternehmen - ein hohes Risiko der Verfassungswidrigkeit in sich birgt".

Die Einschätzung bringt die Abgeordneten in die Bredouille. Der wissenschaftliche Dienst ist dafür zuständig, die Arbeit der Volksvertreter "durch Analysen, Fachinformationen und gutachterliche Stellungnahmen" zu unterstützen. Jetzt stehen die Abgeordneten vor der Aufgabe, ein Gesetz zu verabschieden, das von den eigenen Gutachtern als verfassungsrechtlich bedenklich eingestuft wird - also gegenteilig zur Meinung des Bundeskabinetts. Das kratzt an der Glaubwürdigkeit.

Der Koalitionsausschuss von SPD, CDU und CSU hatte Mitte August beschlossen, den Soli-Zuschlag ab 2021 für alle Steuerzahler mit geringerem und mittlerem Einkommen abzuschaffen, das sind rund 95 Prozent aller Steuerzahler. Hochverdiener und Unternehmen sollen ihn weiterzahlen. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hat - selbst Jurist - einen entsprechenden Gesetzentwurf für verfassungsrechtlich einwandfrei erklärt. Das Bundeskabinett hat ihn am 21. August beschlossen; am 30. August hat das parlamentarische Verfahren begonnen - fast gleichzeitig mit der Warnung des wissenschaftlichen Dienstes. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hatte vergeblich für die vollständige Abschaffung gekämpft; zuletzt wurde er von den eigenen Leuten zurückgepfiffen. CSU-Chef Markus Söder hatte erklärt, er wolle den Soli lieber teilweise abschaffen als sich mit der SPD überhaupt nicht einigen zu können. Man rechnet bei CDU und CSU ohnehin damit, dass das Bundesverfassungsgericht das Gesetz kippen wird.

Die Anhörung zum Gesetz soll am 9. Dezember stattfinden

Der wissenschaftliche Dienst geht auf 23 Seiten auf alle Aspekte der Verfassungsmäßigkeit ein. Von den einschlägigen Experten sei ein "beachtlicher und renommierter Teil" der Ansicht, "dass mit Ablauf des Solidarpaktes II die verfassungsmäßige Rechtfertigung für die Erhebung des Solidaritätszuschlages als Ergänzungsabgabe entfällt". Es gebe nur "eine nennenswerte Gegenstimme". Folglich bestehe "ein sehr hohes Risiko", dass das Bundesverfassungsgericht die Erhebung des Solis ab 2020 für verfassungswidrig erkläre. Für die regierenden Parteien wäre es ein schlechtes Signal, würden die Richter eines ihrer ausdrücklichen Großprojekte kippen - es würde das Vertrauen in Politik weiter schädigen.

Die Frage ist außerdem, ob die partielle Soli-Abschaffung überhaupt planmäßig beschlossen werden kann - oder dies von absehbaren innenpolitischen Ereignissen überrollt wird. Die Koalition hat sich darauf geeinigt, das Gesetz ausführlich in Bundesrat und Bundestag zu beraten. Der Plan sieht vor, dass die Anhörung zum Gesetz im Finanzausschuss ausgerechnet am 9. Dezember stattfinden soll - einen Tag nach Abschluss des SPD-Parteitages, auf dem die Genossen eine neue Parteispitze wählen und über den Verbleib in der großen Koalition entscheiden wollen. Das Ergebnis des Parteitages könnte den Zeitplan beeinflussen: Erst kurz vor Weihnachten soll die zweite und dritte Lesung im Bundestag stattfinden; der Bundesrat schließlich im Februar 2020 abschließend beraten.

Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der partiellen Abschaffung haben auch Wolfgang Schäuble (CDU), einst Innen- und Finanzminister, jetzt Bundestagspräsident, der Bundesrechnungshof sowie der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier geäußert. Seit der Einführung im Jahr 1991 haben die Steuerzahler rund 325 Milliarden Euro Solidaritätszuschlag bezahlt.

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SZ vom 31.08.2019
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