Süddeutsche Zeitung

Russland:Fragwürdige Diagnosen

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Der im Koma liegende Alexej Nawalny darf nach Deutschland ausgeflogen werden. Zuvor lehnten die russischen Ärzte einen Transport des Kremlkritikers ab - und verbreiteten widersprüchliche Informationen.

Von Daniel Brössler und Julian Hans, Berlin/München

In der sibirischen Stadt Omsk war es bereits früher Abend, als am Freitag eine Nachricht aus der Hauptstadt Moskau dem Durcheinander um die Rettung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny eine weitere Wirrung hinzufügte: Eine offizielle Bitte, Nawalny zur Behandlung nach Deutschland bringen zu lassen, sei nicht eingegangen, sagte Putins Sprecher Dmitrij Peskow. Aus Sicht des Kreml spreche nichts gegen eine Verlegung. "Das ist ausschließlich eine medizinische Entscheidung", sagte er. "Die Behandlung von Patienten ist nicht Sache des Kreml. Wir sind keine Ärzte."

Kurz darauf veröffentlichte Nawalnys Team ein Schreiben seiner Frau Julia, in dem sie Putin um Erlaubnis gebeten hatte, ihren Mann ausfliegen zu lassen. Peskow wollte von solchen Überlegungen nur aus den Medien erfahren haben.

Das war an diesem Tag nicht die erste Verwirrung. Während am Morgen eine Spezialmaschine mit medizinischer Ausrüstung und Ärzten an Bord aus Nürnberg bereits im Anflug auf Omsk war, erfuhren Nawalnys Freunde, dass der Politiker nicht transportiert werden dürfe. "Ein Polizist kam ins Zimmer des Chefarztes und sagte: Diese Substanz haben wir gefunden und zeigte dem Chefarzt etwas auf dem Telefon", sagte Iwan Schdanow, der Direktor der von Nawalny gegründeten Stiftung zur Bekämpfung der Korruption.

Um welche Substanz es sich handle, hätten die Polizisten nicht verraten, angeblich um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Sie hätten nur erklärt, dass es sich um eine gefährliche Substanz handle: "Sie sagten, sie ist nicht nur für Alexej bedrohlich. Alle, die mit ihm zu tun haben, müssten Schutzkleidung tragen." Doch auch dieser Informationsstand hielt nicht lange: Am Freitagabend erhielten Nawalnys Unterstützer die erlösende Nachricht, dass er ausgeflogen werden könne. "Wir haben keine Einwände gegen eine Verlegung in ein anderes Krankenhaus", sagte der stellvertretende Chefarzt der Klinik in Omsk, Anatoli Kalinitschenko. Dessen Zustand beschrieb er als "stabil". Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch bestätigte kurz darauf, dass der immer noch an einem Beatmungsgerät hängende 44-Jährige nach Deutschland gebracht werden könne. Ein Schnellverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, das Nawalnys Anwalt am Freitag in Straßburg beantragt hatte, war damit überflüssig. Nun soll in der Berliner Charité untersucht werden, was den plötzlichen Kollaps auslöste, den Nawalny am Donnerstagmorgen auf einem Flug von Tomsk nach Moskau erlitt. Vor Abflug hatte Nawalny am Flughafen einen Tee getrunken, das Flugzeug landete nach seinem Kollaps in Omsk, um Nawalny ins Krankenhaus zu bringen. Ihre Aussagen zum Fund einer Substanz in Nawalnys Körper nahmen die Ärzte in Omsk jedenfalls am Freitagmittag wieder zurück. Weder im Blut, noch im Urin des Patienten seien Spuren gefunden worden, "deshalb gehen wir davon aus, dass der Patient nicht vergiftet wurde", sagte Alexander Murachowskij, der Chefarzt der Notfallklinik No1 in Omsk. Später verlas er noch eine fahrige Erklärung, wonach Nawalny eine Stoffwechselstörung habe, die etwa durch einen plötzlichen Abfall des Blutzuckerspiegels ausgelöst worden sein könnte. In einem Video, das ein Passagier während des Notfalls an Bord am frühen Donnerstagmorgen aufgenommen hatte, hört man eine männliche Stimme vor Schmerzen schreien. Das wäre eine ungewöhnlich heftige Reaktion auf eine Unterzuckerung. Margarita Simonjan, die Chefin der staatlichen Propagandaholding Rossija Sewodnja, schrieb zynisch auf Twitter: "Hätten sie ihm ein Löffelchen Zucker gegeben, wäre nichts passiert."

Schon am Donnerstagabend hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angeboten, Nawalny "in deutschen Krankenhäusern alle gesundheitliche Hilfe" zuteil werden zu lassen. Das Auswärtige Amt nahm Kontakt zu den russischen Behörden auf, "um zu einer professionellen und transparenten Lösung dieses humanitären Notfalls beitragen zu können", so eine Sprecherin.

Dass die Ärzte in Omsk aus medizinischen Gründen einen Transport ablehnten, war in Berlin mindestens mit Skepsis aufgenommen worden. "Es ist zumindest sehr realistisch, dass es für die Verhinderung der Ausreise Nawalnys nicht nur medizinische Gründe gibt", sagte die Vorsitzende des Menschenrechts-Ausschusses des Bundestages, Gyde Jensen (FDP), der SZ. Betrachte man den Modus Operandi, scheine "auch der Vorwurf, dass das Regime Putin hinter dem Giftanschlag steckt, keinesfalls aus der Luft gegriffen". Berlin beobachtete den Fall nach eigenem Bekunden genau. Es stehe "offensichtlich der schwere Verdacht einer Vergiftung im Raum", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Priorität habe nun, dass das Leben von Nawalny "gerettet werden kann und dass er genesen kann". Nawalnys Mitstreiter vermuten, dass dessen Ausreise verzögert werden soll, bis fragliche Substanzen in seinem Körper nicht mehr nachweisbar seien. Sie besorgt vor allem die Präsenz der Polizei und offensichtlich auch von Mitarbeitern des Geheimdienstes in der Klinik. Allein im Arbeitszimmer des Chefarztes hielten sich ständig drei Männer in Zivil auf, die weder sagten, wer sie seien, noch warum sie sich dort aufhielten, so Nawalnys Sprecherin. Als die Spezialisten des deutschen Rettungsfliegers in die Omsker Klinik kamen, wurde Julia Nawalnaja von Polizisten und Sicherheitspersonal daran gehindert, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. "Die haben einen regelrechten Spezialeinsatz durchgeführt, um einen Kontakt zwischen Julia Nawalnaja und den deutschen Notfallärzten zu verhindern", teilte Jarmysch mit. Chefarzt Murachowskij habe dann erklärt, nach Beratung mit den deutschen Ärzten sei entschieden worden, Nawalny in Omsk zu belassen. "Eine glatte Lüge", so seine Sprecherin. Am Abend twitterte Nawalnys Hausärztin Anastasia Wasiljewa, der Flug nach Berlin werde gegen Mitternacht Ortszeit starten. Kurz darauf war wieder alles anders: Die Maschine mit Nawalny könne erst in den frühen Stunden des Samstagmorgen abheben, sagte dessen Sprecherin.

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SZ vom 22.08.2020
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