Süddeutsche Zeitung

Referenden:Wann direkte Demokratie gefährlich werden kann

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Referenden und Volksentscheide klingen verlockend. In jüngster Zeit zeigt sich jedoch, dass sie ohnehin zerstrittene Gesellschaften noch mehr spalten können.

Kommentar von Stefan Ulrich

Kaum etwas ärgert viele Bürger so, wie das - nicht immer zutreffende - Gefühl, von "denen da oben" für dumm verkauft zu werden. Da heißt es in Verfassungen und Sonntagsreden, das Volk sei souverän, alle Staatsgewalt gehe von ihm aus. Tatsächlich scheinen die Eliten zu machen, was sie wollen. Stellen sie etwa nicht die Leute mit Brot und Videospielen ruhig, während sie selbst Geld und Macht untereinander aufteilen? So denken neben passionierten Wutbürgern auch viele andere, die an Staat und Gesellschaft (ver)zweifeln. Wenn die liberalen Demokratien überleben wollen, müssen sie diese Menschen zurückgewinnen.

Doch wie soll das gehen? Eine Antwort könnte lauten: Indem mit der Volkssouveränität ernst gemacht wird - am besten durch direkte Demokratie. "Jedes Gesetz, das das Volk nicht persönlich bestätigt hat, ist null und nichtig", schrieb der Aufklärer Jean-Jacques Rousseau. Sobald ein Volk Vertreter ernenne, also zum Beispiel Abgeordnete, sei es nicht mehr frei.

Rousseaus Gedanken klingen attraktiv, sind wieder populär. Direkte Demokratie erlebt eine Renaissance. Die Bürger entscheiden über wichtige Fragen selbst: die Griechen über Sparpläne, die Schweizer über Zuwanderer, die Briten über Europa, die Ungarn über Flüchtlinge und die Kolumbianer über den Frieden. Im Dezember urteilen die Italiener über eine Verfassungsreform. Bald könnten die Türken über die Todesstrafe abstimmen und die Schotten über ihre Unabhängigkeit.

Die Idee der direkten Demokratie wird derzeit allzu oft missbraucht

Da sage noch einer, vox populi, die Stimme des Volkes, werde nicht gehört. Doch muss die Frage erlaubt sein, ob diese Referenden und Volksentscheide mehr Demokratie, eine bessere Politik und zufriedenere Bürger bringen.

Ungarn zum Beispiel. Hier kann von einer fairen Abstimmung vergangenen Sonntag keine Rede sein. Die Regierung legte den Ungarn die Suggestivfrage vor, ob Europa ihnen die Ansiedlung fremder Menschen aufzwingen solle. Genauso hätte sie fragen können, ob die Bürger mehr Steuern zahlen oder weniger Urlaub haben möchten. Zudem verlief der Wahlkampf extrem einseitig, das Regierungslager überzog das Land mit Hetzpropaganda. Umso politisch reifer ist es, dass eine Mehrheit der Ungarn nicht zu dieser Abstimmung ging und sie so ungültig machte. Premier Viktor Orbán schert das jedoch nicht. Er deutet seine Niederlage in einen Sieg um und sieht sich sogar dazu ermutigt, die Verfassung zu ändern.

Auch die Griechen mussten erleben, wie wenig manche Politiker Referenden achten. 2015 stimmten sie gegen Reformpläne der Geldgeber. Die Folge: Die Pläne wurden umgesetzt, das Land erlebt einen Sparkurs sondergleichen. Viele Griechen dürften sich da genauso verschaukelt fühlen wie jene Dänen, die 1992 gegen den EU-Vertrag von Maastricht gestimmt hatten, worauf die Regierung das Volk nach ein paar Änderungen erneut abstimmen ließ - damit nun das Ergebnis passte. So frustriert man Demokraten.

Kontraproduktiv können direkte Volksvoten auch sein, wenn Politiker sie dafür hernehmen, ihre Autorität zu mehren. So setzte der damalige Premier David Cameron ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens an, um mit einem positiven Ergebnis Europa-Feinde in seiner Partei kleinzuhalten. Die Folge: ein Cameronexit und nun bald der Brexit.

Und Kolumbien? Hier lehnte das Volk einen Friedensschluss ab, weil Angst und Wut stärker wirkten als Argumente. Die Folge könnte neues Morden sein.

Keine echte Demokratie ohne Minderheitenschutz

All das spricht nicht pauschal gegen Referenden und Volksentscheide. Sie können eine Demokratie beleben, wenn die Bürger gut informiert sind und Vor- und Nachteile einer Entscheidung klar abschätzen können. Direkte Demokratie wird aber problematisch, sobald es an fairen Bedingungen und verantwortungsbewussten Politikern fehlt - oder wenn gar Volksverhetzer ein Referendum kapern. Dann kann es zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass Volkes Wille manipuliert, verbogen oder ignoriert wird.

Rousseaus Konzept der direkten Demokratie, bei dem die Mehrheit alles und die Minderheit nichts zählt, hat sich als gefährlich erwiesen. Totalitäre Regime beriefen sich darauf, um das Modell eines Einheitsvolkes unter autoritärer Führung zu legitimieren. Das lehrt: keine echte Demokratie ohne Minderheitenschutz. Dieser ist auch im Westen in Gefahr. Ganze Gesellschaften, etwa in Polen oder den USA, zerfallen in verfeindete Lager, die sich kompromisslos bekämpfen.

Referenden mit ihrer Verkürzung komplexer Fragen auf Ja oder Nein und ihrer radikalen Trennung von Siegern und Besiegten polarisieren zusätzlich. Dagegen kann der viel geschmähte Parteienstreit in den Parlamenten zu Kompromissen führen, die ein Land zusammenhalten.

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Quelle:
SZ vom 05.10.2016
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