Süddeutsche Zeitung

Rechtsextremismus:Die Umdeutung der Pandemie zur großen Lüge

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Der Verfassungsschutz von Nordrhein-Westfalen sorgt sich: Rechtsextremisten versuchen zunehmend, bei Protesten gegen Corona-Regeln neue Anhänger zu rekrutieren.

Von Christian Wernicke, Düsseldorf

Die Zahl der Rechtsextremisten steigt - und sie versuchen eifrig, mit kruden Verschwörungstheorien bei Protesten gegen die Corona-Regeln noch mehr Zulauf zu gewinnen. Vor dieser Strategie und einem "kollektiven Wahn" hat jetzt Herbert Reul gewarnt, der nordrhein-westfälische Innenminister. Der CDU-Politiker sprach am Dienstag in Düsseldorf von "einer echten Gefahr für die Demokratie." Denn, so Reul weiter, die Umdeutung der Corona-Pandemie zur "großen Lüge" sei genauso infektiös wie das Virus selbst: "Das steckt an!"

Reul, der am Dienstag den Jahresbericht 2019 des Landesverfassungsschutzes NRW präsentierte, verwies auf ein Erstarken der Rechtsextremisten bereits im vorigen Jahr: Demnach stieg die Zahl der Rechtsextremisten im bevölkerungsstärksten Bundesland im Jahr 2019 um 25 Prozent auf 4075 Personen. Das ist der höchste Stand seit zehn Jahren. Etwa 2000 von ihnen stufen die Behörden als "gewaltbereit" ein. Zwar ging die politisch motivierte Kriminalität von rechts um knapp drei Prozent zurück, auf 3661 Straftaten. Burkhard Freier, der Chef des Verfassungsschutzes in NRW, sieht vorerst einen "legalistischen Extremismus" auf dem Vormarsch, also Menschen, die selbst weniger zu Straftaten neigten: "Aber auf diesem Nährboden wächst Gewalt, wächst Rassismus und möglicherweise auf Terrorismus."

Minister Reul sieht mit Sorge, wie sich das Internet zur "Dunkelkammer eines extremistischen Weltbildes" entwickelt habe. Dort fänden Einzeltäter wie die Mörder von Halle und Hanau ihren Rückhalt: "Die waren nur scheinbar einsam." Beide hätten ihren "Verschwörungs-Glauben" gehabt. Der Täter von Halle wähnte sich als Opfer des Feminismus, der Attentäter von Hanau habe geglaubt, man habe ihm als Kind einen Chip eingepflanzt. Seit 2015, so Reul weiter, habe die extreme Rechte "den Irrsinn massiv verbreitet", die Politik verfolge per Zuwanderung von Flüchtlingen "einen großen Plan zur Entmachtung und zum Austausch der Bevölkerung."

Nun werde, so Reul, bei so genannten Hygiene-Demonstrationen "ein Mythos" gepflegt, der den Mächtigen eine Corona-Verschwörung zum Zwecke der Freiheitsberaubung der eigenen Bürger unterstelle. "Das Neue bei Corona ist, dass dies jetzt auf der Straße stattfindet." Die extreme Rechte versuche, dabei per "Entgrenzung" neue Anhänger anzuwerben und "in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen."

Nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen sind anfällig, glaubt Professor Andreas Zick

Reuls Deutung stimmte am Dienstag auch Andreas Zick zu, Professor für Konfliktforschung an der Uni Bielefeld. "Der Kampf um die Straße, um den öffentlichen Raum ist den Rechtsextremen sehr wichtig," sagte er der SZ. Corona biete etwa Gruppen wie den so genannten "Reichsbürgern" eine Chance, Brücken zu schlagen "in eine Widerstandsideologie gegen das etablierte System und seine Eliten."

Zick arbeitet an einer empirischen Studie zur Wahrnehmung der Corona-Krise im Land. Eine Befragung von über 3000 Personen Ende März und Anfang April ergab, dass immerhin jeder Vierte glaubte, Medien und Politik würden der Bevölkerung "gezielt bestimmte Informationen verschweigen." Und immerhin acht Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, es gebe "geheime Organisationen, die während der Corona-Krise großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben." Der Bielefelder Professor glaubt, in Zeiten massiver Verunsicherung seien in der Gesellschaft "nahezu alle Gruppen anfällig": auch bürgerliche Milieus, Frauen wie Männer, Jüngere wie Ältere.

Burkhard Freier, der Chef des NRW-Verfassungsschutzes, macht unter den Aktivisten der Corona-Verschwörungsmystik drei sehr heterogene Gruppen aus. Zum einen gebe es Vorkämpfer ohne klaren politischen Hintergrund wie den Sänger Xavier Naidoo. Zudem werde die Verunsicherung gezielt übers Internet auch aus dem Ausland geschürt, etwa aus Russland und China. Und drittens suche die extreme Rechte seit Wochen die Nähe zu Demonstranten gegen die Corona-Beschränkungen. Anfangs hätten Gruppen wie die Partei "Die Rechte", die NPD oder die "Bruderschaft Deutschland" vergeblich versucht, die Proteste selbst zu organisieren. "Aber das hat nicht geklappt", so Freier, "da funktionierten die Abwehrreflexe der Gesellschaft". Seither hätten die Rechtsextremen jedoch ihre Taktik umgestellt: Sie mischten sich nun unter die Demonstranten - und werben für ihre verschworene Sache.

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