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Prozess gegen mutmaßlichen NS-Verbrecher:Der unbestrafte Täter

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"Ein Schlag ins Gesicht der deutschen Justiz"? Einer der letzten NS-Prozesse Deutschlands ist eingestellt worden, weil ein ehemaliger SS-Mann nicht wegen Mordes verurteilt werden kann. Das Landgericht Hagen scheiterte an einer Frage.

Von Bernd Dörries

Letztlich, so sagt die Richterin, ging es um die Frage, warum das Opfer die Hände in den Taschen gehabt habe. Kurz bevor er starb vor 69 Jahren, von hinten erschossen. Und weil sich nach so langer Zeit nicht klären ließ, warum die Hände in den Taschen waren, wurde das Verfahren gegen den Täter eingestellt.

"Eine unerwartete Entscheidung", sagte Heike Hartmann-Garschagen, die Vorsitzende Richterin des Landgerichtes Hagen am Mittwoch. Leicht gemacht habe man es sich nicht. In einem der letzten NS-Prozesse dieses Landes. Fast ein halbes Jahr dauerte das Verfahren gegen den 92-Jährigen Siert B., einen gebürtigen Niederländer, der so überzeugt von den Zielen das Naziregimes war, dass er der SS beitrat und dabei half, seine eigenen Landsleute zu ermorden, die sich dem Widerstand angeschlossen hatten. Denn ein Täter war Siert B., das stellte das Gericht fest, er hat mindestens einen Menschen erschossen, daran gebe es keinen Zweifel, sagte die Richterin. Nur könne nach so langer Zeit eben nicht mehr festgestellt werden, ob auch das Mordmerkmal der Heimtücke vorhanden sei. Totschlag ist verjährt. Auch wenn es sich bei dem Täter um einen Nazi handelt, der bis heute nicht viel dazugelernt hat.

Im September 1944 konnte man ahnen, dass der Krieg zu Ende gehen würde. Manche machte das nachdenklich, manche unerbittlich. Siert B. gehörte zu letzteren. Eines Abends stieg er mit Aldert Klaas Dijkema in einen Wagen und fuhr mit ihm über kleine Straßen in den Tod.

Es fand sich nicht mehr sehr viel über Dijkema in den Akten: 36 Jahre war er alt und stellvertretender Ortsvorsitzender des LO, des holländischen Widerstandes, für den er falsche Papiere organisierte. Aber ein mutiger Mann muss er gewesen sein, sagte die Richterin. Selbst in den Fängen der Nazis machte er keine Angaben über seine Kameraden aus dem Widerstand, verriet niemanden. Deshalb musste er sterben. In den Niederlanden wurde Siert B. bereits 1949 für die nun angeklagte Tat zum Tode verurteilt, in Abwesenheit, denn Siert B. war nach dem Krieg nach Deutschland gekommen. Deutscher war Siert B. durch einen Führerbefehl Hitlers geworden, mit dem viele ausländische Freiwillige der Waffen-SS eingebürgert wurden. Und Deutschland liefert keine Staatsbürger aus. Fast siebzig Jahre brauchte die Justiz, um die Tat von damals anzuklagen. Für ein Urteil reichte es nicht.

"Wir wissen, dass der Angeklagte am Tatort war und auch geschossen hat. Er hat sich des Totschlages schuldig gemacht", sagte Richterin Hartmann-Garschagen. Der sei allerdings verjährt. Das Gericht habe deshalb prüfen müssen, ob das Mordmerkmal der Heimtücke vorhanden gewesen sei. "Es muss sichergestellt werden, dass das Opfer arglos war und keinen Angriff erwartete."

So grausam die Zustände damals auch waren, so mörderisch das Treiben der SS: Selbst der Tod wurde noch bürokratisch abgewickelt. Die Kriminalpolizei wurde gerufen und ein Arzt. In den Akten stand, der Widerstandskämpfer sei auf einer abgelegenen Straße gefunden wurden, 1,50 Meter vom Auto der SS entfernt, von hinten erschossen. Die Hände waren in den Taschen. Ob Jacke oder Hose, konnte nicht mehr festgestellt werden.

Einerseits seien die Hände in den Taschen ein Indiz dafür, dass Dijkemain nicht mit einem Angriff rechnete, nicht fliehen wollte, sagte die Richterin. Auf der anderen Seite könnten die Hände auch ein Indiz dafür sein, dass der Widerstandskämpfer sich des Todes sicher war, und deshalb nicht davon rannte. "Das ist nach so langer Zeit nicht mehr zu klären."

Nebenkläger-Anwalt Detlef Hartmann, der die Schwester des Opfers vertrat, sagte nach dem Urteil: "Das ist ein Schlag ins Gesicht der deutschen Justiz. Das Gericht sagte letztlich: Tut uns leid, wir können das Opfer nicht mehr fragen, ob es damit gerechnet hat, getötet zu werden." Die Staatsanwaltschaft hatte lebenslang gefordert und erwägt eine Revision.

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SZ vom 09.01.2014
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