Süddeutsche Zeitung

Philippinen:Ohne Müll kein Verdienst

Lesezeit: 3 min

Mit der Pandemie kam der Hunger: Früher lebten die Menschen in den Slums von Gelegenheitsjobs, doch längst sind diese kargen Einkommensmöglichkeiten weggebrochen.

Von Arne Perras, München

In der Dekade vor der Pandemie beeindruckten die Philippinen mit Wachstumsraten von sechs bis sieben Prozent, der Präsident der Weltbank ging 2014 sogar so weit, den südostasiatischen Inselstaat als kommendes asiatisches Wirtschaftswunder in den Himmel zu heben. Das stieß schon damals bei manchen Experten auf Skepsis. Die Ausbreitung des Coronavirus machte dann alle Prognosen zunichte. Nun festigt sich auf den Philippinen ein Trend, der die unteren Schichten extrem belastet: Wo es früher wenigstens noch Gelegenheitsjobs gab, die halfen, Familien in den Slums ökonomisch über Wasser zu halten, sind längst auch diese kargen Einkommensmöglichkeiten weitgehend weggebrochen.

Die Konsequenzen sind im Wortsinn existentiell: Die Einkommen reichen offenbar nicht mal mehr aus, genügend Essen auf den Tisch für die Familie zu bekommen, wie Befragungen des Instituts Social Weather Stations nahelegen. 30 Prozent der Haushalte gaben zuletzt an, dass sie sich nicht mehr ausreichend versorgen können. In anderen Worten: Hunger breitet sich aus. Das spüren schon mehr als sieben Millionen Familien, jede dritte auf den Philippinen. Im Sommer waren es noch 20 Prozent.

Vieles spricht dafür, dass der Trend eine unmittelbare Folge des Wirtschaftseinbruchs ist, den gerade die Asian Development Bank genauer bezifferte: Nach jüngsten Berechnungen ist die Ökonomie der Philippinen 2020 um geschätzte 8,5 Prozent geschrumpft, stärker als in allen anderen Nachbarstaaten.

Befragungen alleine können das Ausmaß des Hungers zwar nicht exakt bemessen, doch legen die Daten einen dramatischen Anstieg nahe, der sich auch mit Beobachtungen deckt, wie sie Francelline Jimenez von der Organisation Care Philippines und ihr Team in den vergangenen Monaten gemacht hat. Man erreicht die Helferin per Videocall in Manila. "Viele Menschen haben die größeren Städte verlassen und sind heimgekehrt in die Provinzen", sagt Jimenez, "aber da finden sie jetzt auch keine Jobs mehr."

Die Zahl der registrierten Corona-Infektionen liegt knapp unter einer halben Million, 8000 Tote soll es im Land gegeben haben. Damit sind die Philippinen weniger stark betroffen als etwa europäische Länder, aber die Folgen der eingebrochenen Wirtschaft sind für die Ärmsten umso drastischer. Präsident Rodrigo Duterte ließ seinen Sprecher erklären, dass die Regierung sehr traurig sei über die Ergebnisse der Umfragen zum Hunger. Aber er versicherte, dass sein Kabinett keineswegs nachlässig gehandelt habe. Gleichwohl gibt es Zweifel am Staatsapparat. So mahnte die Ökonomin Toby Monsod im Nachrichtenkanal ANC, man müsse klären, ob es bei der Verteilung der Hilfen nicht doch Fehler und Versäumnisse gegeben habe. Außerdem befürchtet sie, dass die Unterstützungen im Haushalt zu niedrig angesetzt sind, um das Tal zu überbrücken.

Duterte hat eine Taskforce mit dem Namen "Zero Hunger" eingerichtet; das Ziel, die Not zu besiegen, ist jedoch in weite Ferne gerückt. Der Chef der Sondereinheit, Karlo Nograles, räumte im November ein, dass die Anstrengungen nicht ausreichten, er versprach eine Langzeitstrategie, die Duterte als "Geschenk an das philippinische Volk" konzipiert habe. Doch viele Philippiner rätseln erst mal, wie die akuten Engpässe bewältigt werden sollen.

Helferin Jimenez beobachtet, dass viele kleine Läden und Kioske, die wegen des ersten harten Lockdowns im Frühjahr zumachen mussten, auch nach schrittweiser Lockerung nicht mehr aufgemacht haben, diese Jobs sind verloren. Selbst in Payatas, einem Viertel von Quezon City, bricht den Ärmsten das Einkommen weg. Dort wohnen die Leute neben der Müllkippe und leben ausschließlich davon, den täglichen Abfall aus dem Großraum Manila zu sortieren, Die Lieferungen kommen nur noch unregelmäßig, erzählt die Arbeiterin Myrna im Nachrichtenkanal ANC: Keine Mülllaster, kein Verdienst, so einfach ist ihre Rechnung. Die Mutter weiß nicht, wie sie noch den Reis für ihren Sohn kaufen soll.

Gegen Hunger kämpfen die untersten Schichten schon lange, der Staat kam mit seinen Programmen zuletzt voran, doch nun scheint die Pandemie die Fortschritte wieder zunichte zu machen. Dies ist umso schlimmer, als dieser Staat oftmals von Katastrophen heimgesucht wird, Taifune richten verheerende Schäden an. Dieses Jahr hießen sie Molave, Goni und Vamco. Der Klimawandel erhöht die Risiken. Und nicht mal auf Arbeit im Ausland können sich die Philippiner noch verlassen. Die Chancen, in Übersee zu Geld zu kommen und Teile des Verdienstes heimzuschicken an die Familien, haben sich drastisch verringert. So schrumpfen die Kassen und führen dazu, dass Bewohner in den Slums die wachsende Not mehr fürchten als den möglichen Tod durch das Virus.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5145064
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.