Süddeutsche Zeitung

OLG Frankfurt:Erklärungen für den tödlichen Hass

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Im Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke plädiert die Verteidigung auf Totschlag. Sie sieht keine niedrigen Beweggründe beim Angeklagten und keine besondere Schwere der Schuld.

Von Annette Ramelsberger, Frankfurt

Jahrelang ist der Neonazi Stephan Ernst um das Haus des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke geschlichen, er hat den Politiker ausgekundschaftet, hat seinen Hass auf ihn gezüchtet. Dann, am 1. Juni 2019, stand Ernst auf Lübckes Terrasse und schoss ihm in den Kopf. Seit Juni 2020 muss sich Ernst vor dem Oberlandesgericht Frankfurt verantworten - angeklagt des Mordes. Die Bundesanwaltschaft fordert für Ernst eine lebenslange Haftstrafe, das Gericht solle die besondere Schwere der Schuld feststellen und anschließende Sicherungsverwahrung anordnen.

Doch nun, am 43. Verhandlungstag, plädiert die Verteidigung. Und die sagt: Es war kein Mord, es war nur Totschlag. Deswegen müsse Ernst auch nicht zu lebenslanger Haft verurteilt werden, und schon gar nicht müsse die Sicherungsverwahrung greifen. Auch die besondere Schwere der Schuld sieht die Verteidigung nicht. Denn - so argumentieren die Anwälte - Walter Lübcke sei nicht arglos gewesen, er habe die Täter ja gesehen. Außerdem fehlten bei Ernst die niedrigen Beweggründe.

Ernsts Verteidiger Mustafa Kaplan kriecht für diese Argumentation tief in die Seele seines Mandanten. Er erzählt vom alkoholkranken Vater, der den Sohn immer wieder prügelte. Ein Vater, der angeblich Ausländer ablehnte und den Sohn ohrfeigte, als er sich mit seinem türkischen Freund traf. Er erzählt von dem Sohn, der dann selbst begann, Ausländer zu hassen, um wenigstens irgendetwas gemein zu haben mit dem Vater. "Täter-Opfer-Identifikation" nennt das der Verteidiger. Das soll erklären, warum Ernst einen tödlichen Hass gegen Walter Lübcke entwickelte, der sich in Kassel für die Unterbringung von Flüchtlingen einsetzte. Flüchtlinge, die für Stephan Ernst gefährliche islamistische Kopfabschneider waren.

Kaplan steht an einem Pult, er liest nun vor, was sich Ernst immer wieder angesehen hat, um sein Weltbild zu festigen: das Video, auf dem Islamisten einer norwegischen jungen Frau mit einem Messer den Kopf abschneiden. Kaplan nennt jedes Detail, das Knirschen, das Schreien, den Fuß, der auf den Kopf der Frau tritt. Man spürt, wie im Saal plötzlich viele intensiv in ihre Akten starren oder konzentriert in die Luft, als wollten sie die Ohren verschließen. Kaplan sagt, Ernst sei besonders empfänglich gewesen für so etwas, als schizoide Persönlichkeit, die ihm der Psychiatrische Gutachter attestiert hatte. Dabei hat niemand Ernst gezwungen, sich dieses Video immer wieder anzusehen.

"Er dachte, er handelt im Allgemeininteresse"

Ernst habe auch keine egoistischen Beweggründe gehabt beim Schuss auf Lübcke, sagt der Verteidiger. "Er dachte, er handelt im Allgemeininteresse." Denn Ernst sei in Beruf wie Privatleben nur von Rechtsextremisten umgeben gewesen, sein bester Freund Markus H., ein Neonazi und wegen Beihilfe zur Tat mitangeklagt, habe ihn aufgehetzt. Auch seine Kollegen hätten ihm nicht widersprochen, wenn er seine Meinung sagte. Noch nicht mal, als Ernst über Flüchtlinge sagte: "Alle ins Flugzeug rein und überm Mittelmeer auskippen." Ernst habe keine Vorteile für sich gewollt, sondern in seiner Vorstellung Deutschland retten wollen.

Dann geht es um den Tatablauf. Kaplan glaubt seinem Mandanten, dass er nicht allein, sondern gemeinsam mit Markus H. am Tatort war. Dass sie beide von zwei Seiten auf Lübcke zugelaufen seien. "Herr Lübcke musste davon ausgehen, dass es sich um einen bewaffneten Angriff von zwei Fremden handelt", sagt Kaplan und schließt: Das Opfer war in diesem Augenblick nicht mehr arglos - das aber ist Voraussetzung, um einen Mord anzunehmen. Allerdings geht die Bundesanwaltschaft davon aus, dass Ernst sich von hinten und allein an Lübcke herangeschlichen hat, das Opfer also arg- und wehrlos war - so wie Ernst das in einem ersten Geständnis erklärt hatte. Später dann hat er den Mitangeklagten Markus H. beschuldigt, dabei gewesen zu sein.

Die Verteidigung erklärt auch, es gebe keine tragfähigen Beweise, dass Ernst zusätzlich für einen Mordversuch auf einen irakischen Flüchtling im Januar 2016 verantwortlich sei. Die Angaben des Opfers zum Täter seien widersprüchlich, das Gutachten zu DNA-Spuren des Opfers auf einem Messer aus dem Keller von Ernst sei "unwissenschaftlich". Und das Plädoyer von Alexander Hoffmann, der den Iraker vertritt, nannte Jörg Hardies, der zweite Verteidiger von Ernst, eine "linksradikale Hasspredigt". Die Verteidigung beantragte, Ernst vom Mordversuch an dem Iraker freizusprechen.

Dann spricht Verteidiger Kaplan den Vorsitzenden Richter direkt an. "Sie haben am ersten Tag zu meinem Mandanten gesagt: Ein von Reue getragenes Geständnis zahlt sich aus. Herr Ernst hat auf das Gericht gehört." Ernst habe alle Fragen beantwortet, er wolle in ein Aussteigerprogramm, er habe sich entschuldigt, er sage auch der Familie Lübcke zu, dass sie ihn immer fragen könne, wenn noch Fragen auftauchten. Immer soll heißen: auch nach dem Urteil, bis zu seinem Lebensende. Dann sagt Kaplan zum Richter: "Ich hoffe sehr, dass Sie sich an Ihre eigenen Sätze erinnern."

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