Süddeutsche Zeitung

Österreich:Verfassungsrichterin wird Übergangskanzlerin

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Nach dem Sturz von Österreichs Regierungschef Sebastian Kurz (ÖVP) und seiner Regierung wird Österreich mindestens bis September von einer Frau regiert. Bundespräsident Alexander Van der Bellen kündigte am Donnerstag an, die bisherige Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, Brigitte Bierlein, "in einigen Tagen" zur Übergangskanzlerin zu ernennen. Der 69-Jährigen werden gute Kontakte zur ÖVP und auch zur FPÖ nachgesagt. "Ich habe Präsidentin Bierlein als umsichtige, weitsichtige und in höchstem Maße kompetente Persönlichkeit kennen und schätzen gelernt", sagte Van der Bellen über Bierlein. "Ich beauftrage somit Frau Präsidentin Bierlein mit der Bildung einer Bundesregierung."

Als oberste Hüterin der österreichischen Bundesverfassung sei Bierlein am besten geeignet, "die Geschicke der Republik nach innen und nach außen zu lenken", sagte Van der Bellen. Bierlein werde Kandidaten für die einzelnen Ministerien vorschlagen. Nach seiner Zustimmung werde er zügig die neue Regierung ernennen. Große, nachhaltige Gesetzesinitiativen seien in den kommenden Monaten nicht zu erwarten. "Es geht viel mehr um eine gute und geordnete Verwaltung der Staatsgeschäfte."

Bierlein sagte, wichtigstes Ziel sei es, "zur Beruhigung und zum wechselseitigen Vertrauensaufbau beizutragen". Darum gehe es in Österreich, in Europa und in der ganzen Welt. Auf europäischer Ebene werde sie ihr Land "als selbstbewussten Partner in einem starken Europa vertreten". Sie sei überrascht gewesen, als Van der Bellen ihr die Aufgabe angeboten habe, sagte Bierlein. Sie kündigte an, Gespräche mit erfahrenen Persönlichkeiten aus der öffentlichen Verwaltung aufzunehmen.

Van der Bellen sagte, er hätte sich mit Bierlein darauf verständigt, dass vor allem "erfahrene Beamte mit ausgezeichnetem Expertenwissen die Amtsgeschäfte führen werden". Dem stimmten auch weithin die im Parlament vertretenen Parteien zu.

Der Ex-Präsident des Verwaltungsgerichtshofs und Universitätsprofessor Clemens Jabloner sei bereit, Vizekanzler und Justizminister zu werden, sagte Bierlein. Als neuen Außenminister schlug Bierlein den bisherigen Leiter der Europasektion im Bundeskanzleramt vor, Alexander Schallenberg. Ihr Amt als Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs werde sie noch vor ihrer Ernennung als Kanzlerin abgeben.

Die Spitzenjuristin übernimmt das Kanzleramt, nachdem SPÖ und FPÖ am Montag die gesamte Regierung von ÖVP-Chef Sebastian Kurz per Misstrauensvotum im Parlament abberufen hatten. Der Sturz des 32 Jahre alten bisherigen Kanzlers war der vorläufige Höhepunkt einer schweren Regierungskrise, die mit dem Ibiza-Video ihren Anfang genommen hatte. Die von Süddeutscher Zeitung und Spiegel am 17. Mai veröffentlichten Aufnahmen von 2017 zeigen den damaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache im Gespräch mit einer angeblichen russischen Oligarchen-Nichte. Er stellt dabei unter anderem Staatsaufträge für Wahlkampfhilfe zugunsten der FPÖ in Aussicht und spekuliert über die vorteilhaften Folgen eines Kaufs der einflussreichen Kronen-Zeitung durch die Investorin.

Juristin mit Sinn für Kunst

Der Bundespräsident hatte nach dem Sturz der Regierung die Aufgabe, einen Übergangskanzler für die kommenden Monate zu finden. Im September findet eine Neuwahl statt. Die Amtszeit von Bierlein endet voraussichtlich nach den Koalitionsverhandlungen, die auf diese Neuwahl folgen werden.

Bierlein, am 25. Juni 1949 in Wien geboren, wollte eigentlich Kunst studieren, wurde dann aber doch Juristin. 1975 legte sie ihre Richteramtsprüfung ab und wurde zunächst Richterin am Bezirksgericht in der Wiener Innenstadt. Von 1977 an arbeitete sie dann als Staatsanwältin, von 1990 bis 2002 war sie Generalanwältin in der Generalprokuratur, der höchsten Staatsanwaltschaft des Landes. Anschließend folgte der Wechsel an den Verfassungsgerichtshof.

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