Süddeutsche Zeitung

Österreich-Kolumne:Ausflüge in die Normalität

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Bundeskanzler Sebastian Kurz erklärt die Corona-Krise mal wieder für beendet - die Realität sieht anders aus, vor allem wenn man Österreich mit anderen Ländern vergleicht.

Von Valentina Resetarits

Ich habe kürzlich einen Ausflug in die Normalität unternommen - und eine Hochzeit mit 160 Gästen im Burgenland besucht. Nicht einmal eine Maske hatte ich in der Handtasche. Auch meinen Impfnachweis musste ich nicht mehr vorzeigen. Ich habe das Brautpaar umarmt, Bekannten ein Busserl auf die Wange gegeben und beim Kranzlabtanzen mit dem Bräutigam gewalzt, wie 50 andere Frauen auch.

Erst am nächsten Tag, als ich den Abend Revue passieren ließ, kam mir der Gedanke, dass das vielleicht ein bisschen unvernünftig war. Schließlich gibt es in meiner Familie Kinder, die noch nicht geimpft werden können.

Seit Anfang Juli steigt die Zahl der Corona-Fälle in Österreich wieder, die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei knapp 30 und ist aktuell mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Die äußerst ansteckende Delta-Variante macht laut Gesundheitsministerium in Wien bereits mehr als 90 Prozent der Neuinfektionen aus. "Ich sehe diese Entwicklung mit Sorge", schrieb Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein von den Grünen Anfang der Woche auf Twitter. Dazu postete er eine Grafik, die zeigt, dass Österreich nach Malta das europäische Land mit der größten Zunahme an Corona-Fällen ist.

Im Juni 2020 hat Kurz die gesundheitlichen Corona-Folgen als überstanden erklärt

Kanzler Sebastian Kurz hat Corona erst kürzlich als ein "individuelles medizinisches Problem" kleingeredet - und den Staat damit erst einmal aus der Verantwortung gezogen. Kurz neigt ohnehin dazu, die Pandemie voreilig für beendet zu erklären.

Nach der ersten Welle hat er im Juni 2020 "die gesundheitlichen Folgen der Krise" als überstanden bezeichnet, im August 2020 wiederum sah er ein "Licht am Ende des Tunnels" und prophezeite für dieses Jahr einen normalen Sommer. Den versucht der Kanzler jetzt zwar bestmöglich herbeizureden und an den Lockerungen festzuhalten, aber die Zahlen zeichnen leider ein anderes Bild.

Insofern geht es mir wie der österreichischen Bundesregierung. Natürlich will ich "wie damals" Hochzeiten ausgelassen feiern und Wange an Wange über die Tanzfläche schwingen. Natürlich will ich mich wieder ohne schlechtes Gewissen mit fünf Freunden in die Fotobox quetschen. Aber gleichzeitig kommt am nächsten Tag das böse Erwachen und ich muss mir eingestehen: Die Pandemie lässt sich nicht leugnen - und die Ausflüge in die Normalität fallen kurz aus.

Diese Kolumne erscheint am 23. Juli 2021 auch im Österreich-Newsletter , der die Berichterstattung zu Österreich in der SZ bündelt. Hier kostenlos anmelden .

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