Süddeutsche Zeitung

NS-Zeit:Wahn und Willkür in letzter Minute

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Die Jugendbuchautorin Kirsten Boie hat eine Novelle über die Penzberger Mordnacht geschrieben.

Von Roswitha Budeus-Budde

Zwei Menschen überlebten die Penzberger Mordnacht, der eine, weil der Strick riss, an dem er aufgehängt war, und er im Krankenhaus von den Ärzten versteckt wurde, als ihn die Häscher suchten. 16 Menschen wurden kurz vor Kriegsende umgebracht in der Nacht vom 28. auf den 29. April 1945 in der oberbayerischen Stadt Penzberg. Im Radio war von der "Freiheitsaktion Bayern" verkündet worden, dass der Krieg beendet sei. Darauf übernahmen der ehemalige SPD-Bürgermeister Hans Rummer und seine Mitarbeiter wieder die Stadtregierung, um die Zerstörung des Ortes durch abziehende Wehrmachtssoldaten zu verhindern. In der Hoffnung, dass amerikanische Soldaten noch am Nachmittag Penzberg erreichen würden. Sie kamen erst einen Tag darauf. Einen Tag zu spät.

In Reaktion auf diese Aktivitäten setzten durchziehende Soldaten des 22. Werfer-Regiments, die unter dem Oberstleutnant Ohm auf dem Weg zur "Alpenfestung" waren, Rummer und sieben seiner Mitarbeiter fest und erschossen sie. Weitere acht Menschen wurden von der "Werwolf"- Gruppe, angeführt von Hans Zöberlein, willkürlich aufgegriffen und erhängt. Weil sie als Widerständler galten, unter ihnen auch zwei Frauen, die ihre Männer nicht gehen lassen wollten.

Die Täter kamen bis Ende der 1950er Jahre allesamt frei

Kirsten Boie stieß in dem Buch "Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 - 1954" (Rowohlt), - für das der Autor Harald Jähner mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichnet wurde, - auf einen Hinweis auf dieses "Endphasenverbrechen" und begann weiter zu recherchieren. Denn obwohl bekannt als Kinderbuchautorin, ist sie eine politische Kämpferin auch über ihre Bücher hinaus. Ihr gesellschaftskritisches Engagement findet sich auch in realistischen Titeln für junge Erwachsene. In "Monis Jahr" zum Beispiel beschreibt sie ihre Kindheitserinnerungen in den 50er-Jahren in Hamburg.

Der Prozess um die Mordnacht in Penzberg begann 1948 und endete mit Todesurteilen und langen Gefängnisstrafen, aber bis Ende der 50er-Jahre waren alle Verurteilten, weil sie ja auf Befehl gehandelt hätten, wieder frei. Kirsten Boie spürte, dass die Stadt der Mordopfer sehr zurückhaltend gedachte: "Mag sein, die Wunden sind bis heute, fünfundsiebzig Jahre danach, noch nicht alle verheilt. Auch nach der kleinen Gedächtnisausstellung im modernen Stadtmuseum muss man eine Weile suchen."

Um die Erinnerungen wachzuhalten, schrieb Kirsten Boie die Ereignisse der Mordnacht in dem schmalen Band "Dunkelnacht" als Novelle auf. Auch für eine Generation, die in einer Zeit aufwächst, in der durch Pegida und AfD wieder rechtes Gedankengut bis weit in die Mitte der Gesellschaft und ihre Alltagssprache vordringt und die Verbrechen der Nationalsozialisten vergessen werden. Sie erzählt von drei fiktiven Jugendlichen: Marie, Tochter des Metzgermeisters Reithofer, Schorsch, der in sie verliebt ist und als Sohn des Polizeimeisters Lahner noch an den "Endsieg" glaubt, und dennoch zur Rettung eines Überlebenden beiträgt, und Gustl, fanatischer Hitleranhänger und Mitglied der "Werwölfe", der Augenzeuge der Erhängungen wird und den Schock in Alkohol ertränkt.

Ein Totentanz in Dialogen und Monologen

Diese drei erleben als Beobachter und als Täter diesen Nachmittag und diese Nacht. Wie im Stundentakt die am Geschehen Beteiligten in kurzen Auftritten, in Monologen und Dialogen in einem Totentanz mitgerissen werden. Wie die Brutalität der Einzelnen ohne Kommentar der Autorin für eine verrohte, verängstigte Gesellschaft steht, in der besonders die Nazi-Funktionäre ihre Haut retten wollen. Und das Militär in Auflösung, das den Befehl des Münchner Gauleiters Paul Giesler zur gnadenlosen Exekution der Gefangenen erhält, eine Tat, die nur durch die Grausamkeit der "Werwölfe" beim Jagen und Hängen ihrer Opfer noch übertroffen wird.

Kirsten Boie hat keine Dokumentation verfasst, obwohl sie Opfer und Täter mit ihren Namen aufführt und den Verlauf des Verbrechens realistisch schildert. Sie wollte keine Distanz schaffen, die das Verdrängen und Vergessen fördert. "Es ist mir schwer gefallen, einen Schlusspunkt zu setzen", schreibt sie, "denn am 29. April war die Geschichte für Penzberg ja noch lange nicht zu Ende... Wie kann eine Stadt so weitermachen? Und wie konnte sie später die Freisprüche für die Täter ertragen?"

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SZ vom 08.02.2021
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