Süddeutsche Zeitung

Nahostkonflikt:Streit um "Märtyrerfonds"

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Die palästinensische Autonomiebehörde steht kurz vor dem finanziellen Kollaps. Israel kürzte die Auszahlungen von Steuern und Zöllen.

Von Alexandra Föderl-Schmid, Tel Aviv

Die Beziehung zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Autonomiebehörde hat sich in den vergangenen Wochen massiv verschlechtert. Wegen eines Streits mit Israel über die Auszahlung von Steuern und Zöllen kündigte Ministerpräsident Mohammed Schtaje nach der Kabinettssitzung in Ramallah massive Einsparungen im öffentlichen Sektor an. Wo genau, ließ Schtaje offen, nur in einem Punkt wurde er konkret: Die Beschäftigten der Autonomiebehörden bekommen nächste Woche nur 60 Prozent ihres Gehalts ausbezahlt. Schon in den vergangenen zwei Monaten wurden Gehälter nicht zur Gänze überwiesen.

Der Ministerpräsident forderte die Universitäten auf, von den Studenten, deren Eltern für die Autonomiebehörde arbeiten, nur die Hälfte der Studiengebühren zu verlangen. Das hat einen Dominoeffekt: Die weitgehend autonom agierenden Universitäten, die stark von den Einnahmen aus Studiengebühren abhängig sind, haben bereits Probleme, Gehälter ihrer Angestellten vollständig auszuzahlen.

Die Autonomiebehörde hat Kredite aufgenommen, um zumindest die dringendsten Ausgaben begleichen zu können. Ministerpräsident Schtaje hat in einem Interview mit der New York Times vor Kurzem gemutmaßt, die Behörde könne noch im Sommer kollabieren. Nach Ansicht der Palästinenser hält Israel in einem "Akt der Piraterie", so Schtaje, Gelder zurück, die der Autonomiebehörde zustünden.

Seit die Palästinenser mit Israels Behörden zusammenarbeiten, gibt es auch weniger Attentate

Gemäß dem Oslo-Abkommen erhebt Israel für die Palästinenser Steuern und Zölle - etwa, wenn Waren über israelische Häfen in die palästinensischen Gebiete gelangen. Seit Februar kürzt Israel die Überweisungen, es geht um umgerechnet 125 Millionen Euro pro Jahr. Das ist jene Summe, die die Palästinenser nach israelischer Darstellung an die Familien von Attentätern oder Gefangenen, die in Israel einsitzen, überweisen. Die Israelis sehen in dem sogenannten Märtyrerfonds einen Anreiz, weitere Attentate zu verüben. Für die Palästinenser ist dies eine Unterstützung für Familien, die ihren Ernährer verloren haben.

Nach der angekündigten Kürzung der Überweisungen hat Präsident Mahmud Abbas entschieden, dass gar keine Gelder mehr von Israel angenommen werden. Israel überweist insgesamt umgerechnet 2,2 Milliarden Euro pro Jahr. Die Autonomiebehörde hängt zu rund 70 Prozent von den Finanztransfers ab. Kürzungen der Gehälter der 130 000 Beschäftigten haben weitreichende Auswirkungen: Von jedem Gehalt leben bis zu zehn Familienangehörige. Die meisten Beschäftigten sind im Sicherheitsbereich tätig. Seit sie mit israelischen Behörden zusammenarbeiten, gibt es weniger Attentate. Vertreter der israelischen Armee und der Geheimdienst haben ihre Regierung deshalb vor einer Kürzung der Gelder für die Palästinenser gewarnt, weil sie das Ende der Kooperation befürchteten.

Präsident Abbas hat nun die Aufkündigung aller Abkommen mit Israel angekündigt - aus Verärgerung über die einbehaltenen Gelder und die Demolierung von Häusern von Palästinensern in Ostjerusalem vergangene Woche durch Israel.

Marc Frings, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah, erwartet allerdings keinen Kollaps der Autonomiebehörde. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass es nie an finanzieller Unterstützung für die Palästinenser gefehlt habe. "Aber ich glaube, dass es eines Vermittlers aus der Arabischen Liga bedarf, um die angespannte Lage zu lösen. Vor den israelischen Parlamentswahlen im September wird Israels Premier Netanjahu keinen Grund haben, Zugeständnisse gegenüber Ramallah zu artikulieren." Seiner Einschätzung nach hat Abbas "selten so klar" seine Drohung formuliert. "Aus seinem Umfeld weiß ich aber, dass bislang nichts dergleichen unternommen wurde."

In den vergangenen vier Jahren gab es insgesamt sieben Drohungen, die Zusammenarbeit mit Israel aufzukündigen oder die Anerkennung des Staates Israels zurückzunehmen.

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Quelle:
SZ vom 31.07.2019
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