Süddeutsche Zeitung

Nahost:Nadelstiche gegen den Feind

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Die große Eskalation blieb bislang aus. Das bietet keinerlei Garantie, dass es dabei bleibt.

Von Paul-Anton Krüger

In der Straße von Hormus feuern die iranischen Revolutionsgarden Raketen auf die Attrappe eines US-Flugzeugträgers. Auf den Golanhöhen schießt Israels Armee scharf auf angebliche Eindringlinge der Hisbollah, dem verlängerten Arm des iranischen Regimes in Libanon und Syrien. Vorangegangen war ein Luftangriff der israelischen Streitkräfte auf iranische Ziele in Syrien, bei dem ein Hisbollah-Kommandeur getötet wurde. Das sind nur die jüngsten drei einer langen Kette von schwerwiegenden Ereignissen, die sich längst zu einem unerklärten Schattenkrieg verdichtet haben. Nennen ließen sich weiter die Explosion in der iranischen Atomanlage Natans, die Tötung des Kommandeurs der Quds-Brigaden, Qassim Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA in Bagdad oder die Attacke auf die saudischen Ölanlagen, für die Teheran die Verantwortung trägt.

Es ist die geopolitische Großwetterlage und die Unsicherheit mit Blick auf die Präsidentschaftswahl in den USA in weniger als 100 Tagen, die dazu beitragen, dass kein neuer Großkonflikt in der ohnehin von Krisen und Kriegen gebeutelten Region zwischen Golf und Levante losbricht. Keine der Seiten hat Interesse an einer solchen zweifellos zerstörerischen Auseinandersetzung. Aber alle Seiten unterliegen einer großen Versuchung, ihre Position jetzt noch zu verbessern, Nadelstiche gegen den Feind zu setzen, die roten Linien der Gegenseite auszutesten.

Auf der einen Seite stehen Israel, die USA und die sunnitischen Golfstaaten. US-Präsident Donald Trump will Amerika um keinen Preis in einen neuen Krieg in einer Region verwickeln, aus der er lieber heute als morgen abziehen will. Er konzentriert sich darauf, das Atomabkommen endgültig zu zerstören - sein außenpolitisches Vermächtnis und der Versuch, Teheran auf Dauer zu isolieren. Die Golfstaaten fühlen sich dennoch im Stich gelassen, nicht erst seit er die Attacke auf die saudischen Ölanlagen ungesühnt ließ. Auf die Provokationen der von Iran gesteuerten Milizen im Irak sah Trump sich dann veranlasst, mit der Tötung Soleimanis zu reagieren. Ob damit, wie Trumps Hintersassen behaupten, die Abschreckung gegenüber Iran wieder hergestellt worden ist, muss man bezweifeln.

Iran ist seinerseits zu schwach, um eine offene Konfrontation zu wagen - das weiß das Regime in Teheran nur zu gut. Es hat sich längst auf die asymmetrische Kriegsführung durch Stellvertreter verlegt, von der Hisbollah in Libanon über die schiitischen Milizen in Syrien und im Irak bis zu den Huthis in Jemen. Dagegen haben die USA bis heute kein wirksames Mittel gefunden, die Golfstaaten noch weniger. Nur Israel hält die iranischen Truppen in Syrien durch beständige Luftangriffe einigermaßen in Schach. Auf das Völkerrecht geben alle Beteiligten nichts.

Die große Gefahr in diesem Schlagabtausch liegt in möglichen Fehlkalkulationen. Iran hat trotz eindeutiger Warnungen aus Washington kaum damit gerechnet, dass Trump, nachdem er monatelang nichts unternommen hatte, auf eine aus Teheraner Sicht überschaubare Provokation im Irak mit einem Angriff auf Soleimani reagiert. Kaum jemand in Washington hat Iran zugetraut, eine US-Drohne abzuschießen oder Saudi-Arabien zu attackieren. Nur bietet die Tatsache, dass die große Eskalation bislang ausgeblieben ist, keinerlei Garantie, dass es dabei bleibt. Es sind schon wegen geringerer Anlässe Kriege ausgebrochen.

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SZ vom 29.07.2020
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