Süddeutsche Zeitung

Nahost:Allahs verlorene Söhne

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In der Heimat werden sie mit dem Tod bedroht und im Feindesland als Illegale verfolgt: Auf Israels Straßen leben etwa 500 schwule Palästinenser.

Thorsten Schmitz

Ein kühler Herbstwind pfeift durch die Straßen von Tel Aviv in dieser Dienstagnacht, und Mustafa zieht den Reißverschluss seiner Trainingsjacke zu. Der 23-Jährige sitzt auf der Lehne einer Holzbank im Gan Hachaschmal, einem Grünflecken im Süden der Mittelmeermetropole, und raucht eine Zigarette nach der anderen.

Am Hals trägt der Muslim Mustafa einen Davidstern - als Tarnung. Manchmal hilft ihm der Davidstern, wenn die Polizeistreifen Patrouille fahren und die Jungs vom Gan Hachaschmal mit Taschenlampen anleuchten. Zur Tarnung gehört auch, dass Mustafa sich bemüht, Hebräisch ohne arabischen Akzent zu sprechen.

Mustafa heißt gar nicht Mustafa, aber seinen richtigen Namen will er nicht nennen. Er hat Angst, sagt er, dass seine Brüder diesen Artikel in die Hände bekommen könnten. Er sehnt sich nach seiner Familie und seinem palästinensischen Heimatdorf nahe Dschenin im Norden des Westjordanlandes. Aber zurück dorthin kann er nicht. Einer seiner Brüder hat gedroht, ihn umzubringen.

Und seine Mutter legt den Hörer auf, wenn er anruft. Für seine Familie existiert er nicht mehr, denn er hat ihre Ehre verletzt. Das Verbrechen Mustafas: Er ist schwul. Homosexualität wird in der palästinensischen Gesellschaft mindestens mit Verachtung und Gewalt, oft aber auch mit Mord gesühnt.

Er habe Glück, überhaupt noch am Leben zu sein, sagt Mustafa. Er habe schon früh gespürt, dass er schwul ist. "Aber ich habe mich nicht getraut, darüber zu reden, weil ich wusste, dass das ein Todesurteil ist." Stattdessen spielte Mustafa mit seinen Freunden Fußball und redete mit, wenn über Mädchen gesprochen wurde. "Dabei habe ich Jungs hinterhergeschaut", erzählt Mustafa und schnippt die Zigarette weg.

Flucht oder Tod

Weil die Grenzen zwischen Westjordanland und Israel vor fünf Jahren noch durchlässiger waren, floh Mustafa manchmal nach Tel Aviv, wo er in Bars und Clubs erste homosexuelle Erfahrungen machte. Eines Tages hielt er die Heimlichtuerei nicht mehr aus und vertraute sich einem seiner Brüder an.

Doch der hatte kein Verständnis, zumal er wenig später heiraten sollte. Wäre Mustafas Homosexualität bekannt geworden, hätten die Eltern der Braut die Hochzeit abgeblasen. Der Bruder nannte ihm zwei Optionen: "Entweder du verschwindest aus unserem Leben oder du bist tot." Das war vor fünf Jahren. Mustafa floh ins benachbarte Feindesland, nach Israel.

Verglichen mit den Palästinensergebieten leben Schwule und Lesben hier im Paradies: Sie müssen sich nicht verstecken, Männer laufen händchenhaltend durch Tel Aviv, jedes Jahr zur Gay-Parade strömen 200.000 Israelis nach Tel Aviv, darunter viele Heterosexuelle und Familien.

Werbung für "rosa Urlaub"

Das Tourismus-Ministerium will nun mit einer PR-Kampagne in Schwulen-Metropolen wie Berlin oder San Francisco für "rosa Urlaub" am Strand und in den Clubs von Tel Aviv werben. Die zunehmende Toleranz zeigt auch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs in Jerusalem vom vergangenen Dienstag. Künftig können Schwule und Lesben, die im Ausland geheiratet haben, ihre Verbindung beim Einwohnermeldeamt registrieren lassen.

Für Illegale wie Mustafa jedoch bleibt selbst die relative Freiheit, die Israel den Homosexuellen heute bietet, nur ein großer Traum. Er lebt seit seiner Flucht in den Straßen von Tel Aviv. Der kleine Park Gan Hachaschmal im Süden der Stadt ist sein Wohnzimmer geworden. Mustafa verkauft hier seit drei Jahren nachts seinen Körper an (meist jüdische) Männer. Tagsüber ist die Grünanlage Erholungsoase für die Besitzer und Kunden der angrenzenden Modegeschäfte und Restaurants, mit anbrechender Dunkelheit verwandelt sie sich in einen Männer-Strich.

Zuvor hatte Mustafa als Spülhilfe in einem Restaurant gearbeitet, aber dem Besitzer wurde es zu brenzlig, illegal einen Palästinenser zu beschäftigen. Mustafa hat keine Wohnung und schläft fast jede Nacht irgendwo anders. Mal bei anderen palästinensischen Schwulen, die ebenfalls im Park anschaffen, mal in verlassenen Häusern, mal im Hotelzimmer eines Freiers.

Ehre gegen Attentat

Mehrere hundert schwule Palästinenser leben illegal in Israel - in auswegloser Lage: In ihren Heimatorten wie in Israel werden sie verfolgt. Palästinenser dürfen sich in Israel generell nicht aufhalten, es sei denn, sie sind im Besitz einer der raren Arbeitsgenehmigungen, die die Behörden noch ausstellen. Mustafa ist mehrfach auf Polizeistationen verhört worden. Bislang wurde er aber immer wieder freigelassen, weil die Polizisten ihm abnahmen, dass er kein Selbstmordattentäter ist.

Um die verlorenen Söhne aus den Palästinensergebieten kümmert sich die israelische Schwulenvereinigung Aguda mit Sitz in Tel Aviv. Nach Schätzung von Schaul Gannon, der sich im Auftrag der Aguda um die Heimatlosen kümmert, leben 500 schwule Palästinenser und mehrere Dutzend lesbische Palästinenserinnen in Israel, offizielle Zahlen gibt es nicht.

Gannon versorgt die Jungs mit Kondomen, aber auch mit Kleidung. Ab und zu verschafft er den Jugendlichen auch einen dauerhaften Schlafplatz, oft Termine bei israelischen Zahn- oder Hautärzten, die die Palästinenser umsonst behandeln.

Schaul Gannon erzählt, dass Homosexualität in den Palästinensergebieten als Verbrechen gewertet werde. Seine Jungs hätten ihm berichtet, dass sie auf Polizeiwachen gefoltert worden seien. Manche seien Mitgliedern der Terrorgruppen Hamas und "Islamischer Heiliger Krieg" vorgeführt worden, die versucht hätten, die jungen Schwulen zu Selbstmordattentaten in Israel zu überreden. Nach Auffassung der Terrorgruppen könnten sie so die Ehre ihrer Familien wiederherstellen.

Die Palästinensische Autonomiebehörde, die derzeit von der islamistischen Hamas geführt wird, mischt sich nicht in kriminelle Handlungen ein, die in den palästinensischen Medien als "Wiederherstellung von Familienehre" bezeichnet werden - und in Wahrheit die Tötung eines homosexuellen Familienmitglieds bedeuten. Oft würden auch Gerüchte gestreut, dass der schwule Sohn ein Kollaborateur sei, der mit Israels Geheimdienst zusammenarbeite, sagt Gannon.

Kollaborateure werden ermordet

Das Schicksal von angeblichen Kollaborateuren ist bekannt: Sie werden, oft auf belebten Plätzen, vor den Augen der Polizei und voyeuristischer Zuschauer ermordet. Allein 2005, so schätzt die israelische Menschenrechtsgruppe Betselem, seien im Gazastreifen und im Westjordanland mindestens 15 mutmaßliche "Kollaborateure" getötet worden. Einigen sei nachgesagt worden, sie seien homosexuell gewesen.

Dass das Thema mit einem Tabu belegt ist, zeigt sich auch an der Haltung der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Palestinian Human Rights Watch (PHRW), die eigenen Angaben zufolge Demokratie-Defizite in der Autonomiebehörde dokumentiert und anprangert. Ihr Geschäftsführer Bassam Eid, der bei der israelischen Gruppe Betselem sieben Jahre als Feldforscher Menschenrechtsverstöße recherchierte, winkt auf Anfrage ab: "Wir haben wirklich dringendere Probleme im Moment als den Umgang mit Homosexuellen in unserer Gesellschaft."

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Quelle:
SZ vom 22.11.2006
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