Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf Hildegard Hamm-Brücher:Präsidentin h.c.

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Sie brauchte keine hohen Ämter, um als eine prägende Stimme der Bundesrepublik gehört zu werden. Hildegard Hamm-Brücher hatte dafür Haltung, Eloquenz, Charisma. Nun ist die große Liberale gestorben.

Von Detlef Esslinger

Nichts würde Hildegard Hamm-Brücher so wenig gerecht wie eine Aufzählung der Ämter, die sie im Laufe ihres Lebens innehatte. Ja sicher, sie war manches: Staatssekretärin im Hessischen Kultus- sowie im Bundesbildungsministerium, Fraktionsvorsitzende der FDP im bayerischen Landtag, Staatsministerin im Auswärtigen Amt. 1994 kandidierte sie für die FDP als Bundespräsidentin. Wer über Politiker im Ruhestand schreibt, stellt sie den Lesern oft mit den Worten "Der oder die frühere..." vor. In diesem Fall brauchte es das eigentlich nicht; es waren ja auch nur mittelgroße Ämter. Hildegard Hamm-Brücher war eine derjenigen, die kein Amt benötigen, um fortwährend gehört zu werden. Biografie, Rhetorik und Charisma entkoppelten sie von Ämtern, die Bedeutung ja immer nur vorübergehend verleihen.

Bei Hildegard Hamm-Brücher lässt sich der Zeitpunkt dieser Entkoppelung sogar genau datieren: 1. Oktober 1982. Es war der Tag des konstruktiven Misstrauensvotums im Deutschen Bundestag. Hamm-Brücher gehörte zu denjenigen in der FDP, die den Wechsel von der sozialliberalen Koalition in die mit CDU und CSU nicht mitmachten. Jeder Mensch kennt diese Situationen im Leben, in denen man eine Entscheidung treffen muss - und welche Folgen die hat, positive oder weniger positive, das hängt nicht nur von der Entscheidung selber ab, sondern auch davon, wie man diese Entscheidung vertritt. Die Debatte im Bundestag war eigentlich schon gelaufen, da meldete sich Hamm-Brücher zu Wort, die bisherige Staatsministerin im Auswärtigen Amt, für eine sogenannte persönliche Erklärung. "Ich finde, dass beide dies nicht verdient haben", sagte sie, "Helmut Schmidt, ohne Wählervotum gestürzt zu werden, und Sie, Helmut Kohl, ohne Wählervotum zur Kanzlerschaft zu gelangen." Das habe das Odium des verletzten demokratischen Anstands. Heiner Geißler, als CDU-Generalsekretär in seinen ungestümen Jahren, war so freundlich, darin "einen Anschlag auf unsere Verfassung" festzustellen. Woraufhin die ohnehin erregte Debatte Züge eines Tumults annahm.

Was blieb von diesem Tag? Erstens natürlich, dass Kohl Kanzler wurde. Und zweitens, dass da eine Frau mit sehr einfachen, sehr klaren Worten ihre weitere Karriere - also diejenige mit Titel, Büro und Dienstwagen - für ihre Meinung aufgegeben hatte; egal, was man von dieser Meinung nun hielt. Ist es nicht das, was die Leute immer erwarten, von anderen? Es ist ein paar Jahre her, am Gate des Köln-Bonner Flughafens unterhielten sich zwei Frauen über Politiker. Sie waren vielleicht Anfang vierzig, 1982 jedenfalls gewiss erst im Schülerinnen-Alter. Sagte die eine zur anderen: "Solche Politiker wie die Hamm-Brücher gibt's doch heutzutage gar nicht mehr."

Hildegard Hamm-Brücher verkörperte die zwar naive, aber gewiss nicht unsympathische Sehnsucht vieler Menschen nach Volksvertretern, deren Maxime immer nur ihre Überzeugungen sind. Sie war Jahrgang 1921, geboren in Essen; die Nazis stuften sie als "Halbjüdin" ein, der Großmutter wegen, und den Zweiten Weltkrieg verbrachte sie hauptsächlich damit zu überleben. Ihr Glück war die Obhut des Chemienobelpreisträgers Heinrich Wieland an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Der galt als "kriegswichtiger" Forscher und hielt Hildegard Brücher als Doktorandin. Im Bach-Chor lernte sie Sophie Scholl kennen, nach deren Hinrichtung überlegte sie, in den Widerstand zu gehen. Ein Studentenpfarrer brachte sie davon ab: "Der Krieg geht bald zu Ende, dann müssen Sie dafür leben, wofür Ihre Freunde gestorben sind."

Dafür leben: Für sie hieß das nicht nur, öffentlich anzuprangern, dass alte Nazis wieder zu Rang und Positionen kamen. Es hieß für sie nicht nur, die Demokratie als das Thema ihres Lebens zu hegen, im politischen Teil dieses Lebens, sozusagen. Demokratie hieß für sie, stets das zu machen, was sie selber für richtig hielt; und dies unbedingt auch im Privaten.

1954 brachte sie ihren Sohn zur Welt, bei ihrem Bruder in Holland - der Kindsvater war der noch verheiratete, katholische Münchner CSU-Stadtrat Erwin Hamm; was für ein Unding, damals.

1967 wurde sie Staatssekretärin in Hessen. Erwin, der Sohn und die 1959 geborene Tochter blieben daheim in München; eine fassungslose andere Mutter fragte die Tochter: "Wenn deine Mutter so viel weg ist, wer erzieht dich denn dann?" Worauf das Mädchen zur Antwort gab: "Bei uns wird nicht erzogen." Super Kompliment.

1982 die berühmte persönliche Erklärung, woraufhin Kohl sie nicht mehr grüßte; selbst 1994 in der Bundesversammlung nicht, als er an der Kandidatin seines Koalitionspartners FDP kaum vorbeikam.

1946 warb Theodor Heuss sie für die FDP. 56 Jahre später ging sie, wegen Möllemann

2002: Austritt aus der FDP. Theodor Heuss, den sie 1946 als Interviewerin für die Neue Zeitung kennengelernt hatte, warb sie damals für diese Partei, indem er ihr etwas über die Demokratie beibrachte. "Der Heuss hat so lebendig erzählt, ich guckte mit großen Augen, war völlig hingerissen und stellte Fragen über Fragen. Am Schluss, als ich mich verabschiedete, sagte er: "Mädele, Sie müsset in die Politik." 56 Jahre darauf waren es die Ereignisse um Jürgen Möllemann, die sie aus der Partei trieben. Der damalige FDP-Spitzenpolitiker jonglierte mit antisemitischen Klischees; der damalige Vorsitzende Guido Westerwelle stellte sich dem nur halbherzig entgegen. Also ging Hildegard Hamm-Brücher am 22. September 2002, dem Tag der Bundestagswahl, mittags in München zur Post am Hauptbahnhof und gab den Brief an Westerwelle mit der Austrittserklärung auf. Vor oder nach dem Wahltag wäre ihr zu effekthascherisch gewesen. Aber das Statement musste sein.

Anschließend hat sie sich als "freischaffende Liberale" bezeichnet. Den langjährigen Münchner Oberbürgermeister Christian Ude von der SPD bewunderte sie. Auf dem Ticket der hessischen Grünen nahm sie 2010 an der Bundesversammlung teil. Später akzeptierte sie auch wieder eine Einladung der bayerischen FDP zu einem Fest; sie mochte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die damalige Vorsitzende. Hinterher war sie angetan von dem ganzen Ochsen und dem Steckerlfisch; sie erzählte von dem Abend und sagte dann: "Hilft uns auch nicht über die fünf Prozent." Uns. Nach 56 Jahren in einer Partei kann es zwar vorkommen, dass man austritt aus ihr. Verlassen kann man sie nicht.

Der Politik- und Medienbetrieb ist mit Etiketten immer schnell zur Hand; "Gesinnungsethikerin" ist ein Etikett, das bei jemandem wie Hildegard Hamm-Brücher nahelag. Sie empfand das überhaupt nicht als Kompliment. "Ich denke, dass mein zeitweiliger Ruf, zu sehr Prinzipienreiterin und Gesinnungspolitikerin und deshalb nicht integrierbar zu sein, ein typisches Männerverdikt war", schrieb sie 2011; ein Verdikt, "das ich immer mal wieder in Form von Häme, von sexistischer Aggressivität oder mitleidiger Abqualifizierung zu spüren bekam."

Sie glaubte, wäre sie 20 oder 30 Jahre später geboren worden, wäre sie vielleicht eine richtige Spitzenpolitikerin geworden, und nicht bloß Staatssekretärin und Staatsministerin, weil man in den Sechzigern und Siebzigern zumindest in der zweiten Reihe noch ein, zwei Frauen brauchte. Sie mochte es auch nicht, ausschließlich als Demokratiepolitikerin wahrgenommen zu werden. War sie nicht darüber hinaus, bis weit in die Siebzigerjahre hinein, eine fortschrittliche, tatkräftige Bildungspolitikerin? Allerdings war das eine bei ihr vom anderen kaum zu trennen. 1950 kam sie in den bayerischen Landtag, sie suchte sich die Bildungspolitik ja gezielt aus: "Erst wenn die bildungspolitischen Ziele auf der Basis demokratischer Bedingungen erneuert wären, können der Bazillus der NS-Ideologie und die konservativen Verkrustungen überwunden werden", sagte sie.

Es war die Nazi-Zeit im Allgemeinen, die sie prägte, und das Schicksal der Großmutter im Besonderen. Bei ihr in Dresden wuchsen sie und die vier Geschwister auf, nachdem die Eltern 1931 und 1932 gestorben waren. Die Großmutter war die Heldin ihrer Jugend, und als die Nazis diese längst zum Christentum konvertierte Jüdin 1942 nach Theresienstadt deportieren wollten, nahm die 79 Jahre alte Frau Schlaftabletten. Unten im Haus brüllte ein SS-Mann: "Ist die Judensau noch nicht verreckt?" Die Enkelin vergaß die Szene ihr Leben lang nicht.

Wenig fand Hildegard Hamm-Brücher so besorgniserregend wie das, was sie "Geschichtsvergessenheit" nannte. Pegida, der Verfall der Diskussionskultur, die AfD, die Erfolge der Nationalisten in so vielen Ländern - das alles war ihr nicht bloß unheimlich. Sie sah darin die Bestätigung für ihre These, dass die Demokratie nie selbstverständlich ist, dass sie immer wieder neu zu erringen und zu verteidigen ist. Wie schrieb sie 2011? Sie sorge sich, dass die Erinnerung an die Nazizeit verblasst "und es zu Rückfällen kommen kann".

Sechs Wochen vor ihrem 90. stürzte sie - beim Radeln. Zum Fest war sie wieder fit

München, ihre Stadt seit 1940, hatte sie 1995 zur Ehrenbürgerin ernannt, unter den vielen anderen Ehrungen, die sie erhielt, waren einige undotiert, manche dotiert. Jedenfalls hatte Hildegard Hamm-Brücher im Lauf der Jahre mehrere Zehntausend Euro durch Preisgelder eingenommen, und weil sie fand, dass weder sie noch ihre Kinder das Geld ernsthaft brauchen, stiftete sie zu ihrem 90. Geburtstag den "Münchner Bürgerpreis gegen Vergessen - für Demokratie". Seitdem ehrten sie und eine Jury alle zwei Jahre mit jeweils 5000 Euro Schüler, die in München entweder an die Nazi-Zeit erinnern, sich gegen Neonazis stellen oder für die Demokratie eintreten. Mal wurden Berufsschüler ausgezeichnet, die auf 16 tragenden Säulen des Schulhauses die Grundrechte illustrierten, mal die Initiative "Löwenfans gegen Rechts"; wenn es um derlei ging, wusste sie sogar dem Fußball etwas abzugewinnen.

Vor gut fünf Jahren, zu diesem 90. Geburtstag, plante die Stadt München einen Empfang für ihre Ehrenbürgerin. Sechs Wochen davor brach die sich beim Radeln den Oberschenkelhals; ja wirklich, beim Radeln. Hildegard Hamm-Brücher war indes nicht der Typ, der so etwas als unabänderliches Pech betrachtet, der deswegen die Feier absagen würde oder gar sichtbar im Krankenstand dorthin rollen würde. Sie trainierte und trainierte und trainierte, und diese 90-Jährige erreichte ihr Ziel: zu Fuß ins Rathaus zu gelangen; nur einen Stock ließ sie zu. Erst in den letzten ein, zwei Jahren schwanden ihr die Kräfte, sie mochte sich kaum mehr verabreden, aus Angst, kurzfristig absagen zu müssen, "und dann geniere ich mich so". Mehrere Gebrechen setzten ihr zu, nach einem Gespräch pflegte sie zu sagen, das sei wohl ihre Abschiedsvorstellung gewesen. Sie führte aber bis zum Schluss ein selbstbestimmtes Leben, in ihrer Wohnung im Stadtteil Harlaching.

Am Mittwoch ist Hildegard Hamm-Brücher im Alter von 95 Jahren gestorben, die Familie gab es am Freitag bekannt. Sie war vielleicht die beste Bundespräsidentin, die Deutschland nie hatte.

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SZ vom 10.12.2016
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