Baron von Münchhausen:Jeder Schuss ein Treffer
Lesezeit: 7 Min.
Im Mai vor 300 Jahren kam Hieronymus von Münchhausen zu Welt, der mit seinen fantastischen Abenteuern zu Wasser, zu Lande und in der Luft berühmt wurde. Die wahre Geschichte eines Geschichtenerzählers, der zum Star wider willen wurde.
Von Christian Mayer
Er hat für jedes Problem eine Lösung, selbst in aussichtsloser Situation verlässt ihn nie der Mut, außerdem ist er originell und gewitzt, fintenreich und nervenstark. Mit anderen Worten: ein Mann der Stunde.
Frechheit siegt beim Baron von Münchhausen, der zu Höchstform aufläuft, wenn er, wie in einer berühmten Szene, mit seinem geliebten Litauer etwas zu kurz springt, um das rettende Ufer zu erreichen, und bis zum Hals im Morast steckt: "Hier hätte ich unfehlbar umkommen müssen, wenn nicht die Stärke meines Armes mich an meinem eigenen Haarzopfe, samt dem Pferde, welches ich fest zwischen meine Knie schloss, wieder herausgezogen hätte."
Ach, der Baron. Etwas mehr von seinen Eigenschaften bräuchten wir heute mehr denn je. Etwas mehr von seiner Chuzpe. Wenn es uns nur gelänge, an uns zu glauben - und an die Chance der Selbstbefreiung aus dem Morast der Gegenwart.
Die Gelegenheit ist günstig, auch wenn 2020 kein allzu lustiges Jahr ist, aber immerhin ein Münchhausen-Jahr. Der reale Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen kam am 11. Mai 1720 in Bodenwerder im Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg zur Welt; sein 300. Geburtstag ist der ideale Anlass, um sich Gedanken zu machen über einen Menschen, der nie vorhatte, einmal als Filmheld, Werbefigur, als Motiv für 20-Euro-Sammlermünzen oder Namensgeber für eine Persönlichkeitsstörung zu enden.
Die Historikerin Tina Breckwoldt, eigentlich Expertin für Ur- und Frühgeschichte, hat gerade eines der besten Bücher über den rätselhaften Mann veröffentlicht ("Die ganze Wahrheit über Münchhausen & Co.", Benevento Verlag). Sie nimmt den Leser mit auf eine Reise ins 18. Jahrhundert, in die Welt der Landadligen. Seit 1582 gehört das Gut Bodenwerder an der Weser zu den Lehen der Familie.
Münchhausen ist der drittgeborene Sohn eines Oberstleutnants der Kurfürstlich Hannoverschen Kavallerie. Der Vater stirbt, als Hieronymus vier Jahre alt ist. Mit dreizehn schickt ihn seine Mutter an den Hof von Prinz Ernst Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel im nahe gelegenen Bevern, das Schloss hat noch sein ruhmreicher Vorfahr Statius von Münchhausen zu Beginn des 17. Jahrhunderts bauen lassen.
Der junge Hieronymus lernt alles, was ein Adliger können muss, Reiten und Fechten, dazu Deutsch, Französisch und etwas Latein. Höfische Feste, Theater, Tanz, die Rituale einer geschlossenen Gesellschaft, all das ist wichtiger als reine Gelehrsamkeit. Diese Erziehung kommt ihm zugute, als er 1735 Page bei Ferdinand Albrecht II., dem neuen Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel wird, und nach dessen Tod nur sechs Monate später bei seinem Sohn Carl.
Er ist bereit für das große Abenteuer
Münchhausen bleibt den Braunschweigern tief verbunden. Als der jüngere Bruder des Herzogs, Prinz Anton Ulrich, Karriere am Zarenhof in der russischen Hauptstadt macht und Landsleute seines Vertrauens sucht, die ihn begleiten, meldet sich auch Hieronymus. Er ist bereit für das große Abenteuer. Im Dezember 1737 reist er über Wolfenbüttel, Königsberg und Riga nach Sankt Petersburg. In den kommenden Monaten zieht er an der Seite seines Herrn in den Russisch-Österreichischen Türkenkrieg.
Als Leibpage ist er wohl dabei, als es zu einer Schlacht zwischen der russischen Armee und der türkischen Kavallerie kommt, bei der Anton Ulrichs Pferd unter ihm weggeschossen wird. Eindruck machen auf ihn auch die erbitterten Kämpfe um die osmanische Festung Otschakow an der Schwarzmeerküste. Was genau der 18-Jährige in diesem Krieg erlebt, darüber kann man nur spekulieren.
Viele der bekanntesten Jagd-, Reit- und Reiseabenteuer beruhen wohl auf diesen prägenden Erfahrungen in Russland, manche haben zumindest einen wahren Kern; verbürgt ist die Liebe des Freiherrn zu Pferden und Hunden. Das von Gottfried August Bürger herausgegebene Münchhausen-Buch beginnt ebenfalls mit einer Reise nach Russland.
Der Titelheld findet sich bald in einer Landschaft aus Eis und Schnee wieder, mitten im russischen Winter spielt auch die erste spektakuläre Szene: Das Pferd, das er abends an einem Baumstummel festgebunden zu haben glaubte, hängt am nächsten Morgen hoch in der Luft, am Wetterhahn einer Kirche - so was soll vorkommen, wenn der Schnee schneller schmilzt, als man schauen kann. Wobei Münchhausen gleich noch seine Schießkünste unter Beweis stellt, mit der Pistole durchtrennt er den Halfter, wodurch sein Pferd sanft herabsinkt.
Überhaupt ist der Ich-Erzähler ein grandioser Schütze, der es locker mit Bären und Wölfen aufnimmt und einen stattlichen Hirsch mit einer Ladung Kirschsteinen aufs Korn nimmt. Das Tier entkommt, doch der Freiherr trifft im nächsten Jahr auf ein Naturwunder: Zwischen dem Geweih trägt derselbe Hirsch einen voll ausgewachsenen Kirschbaum, an dem sich Münchhausen sogleich erfreut, als er ihn mit einem satten Schuss erledigt hat.
Dieses naturgewaltige Russland steckt voller Wunder - unvergesslich die Szene mit dem tollwütigen Hund, der Münchhausen in einer Gasse in St. Petersburg auflauert und der seinen Überrock zu fassen bekommt, woraufhin das Kleidungsstück des Barons ebenso tollwütig wird wie der Hund und selbst das neue Galakleid im Schrank anfällt. Das Virus war eben damals schon eine Bestie.
Münchhausens Abenteuer sind kurze, aberwitzige Szenen, aber in ihrer Skurrilität wahrhaftig. Denn ist das Leben selbst nicht auch völlig unberechenbar und nur auszuhalten, wenn man sich darüber lustig macht? Solche Geschichten erzählt man gerne im Wirtshaus, und jeder weiß, dass man den Stoff wunderbar anreichern und ausschmücken kann, je nach Lust und Laune.
Der Held dieser Abenteuer macht keine innere Entwicklung durch, seine Motive bleiben verborgen - er lässt sich, wie jeder gute Spieler, keinesfalls in die Karten schauen. Münchhausen ist eben ein Schelm, wie er im Buche steht, kein tiefsinniger Charakter; in dieser Hinsicht ähnelt er einem Gaukler wie Till Eulenspiegel oder einem Weltenbummler wie Gulliver.
Durchs Mittelmeer reist er im Bauch eines Fisches
Ein Lügenbaron? Keineswegs, auch wenn die Journalistin Anna von Münchhausen für ihr neues Buch über ihren "fantastischen Vorfahren" genau diesen Titel wieder bemüht. Doch die Autorin stellt zugleich fest: "Gelogen ist, dass er ein Lügner oder ein blöder Blender war. Für Hieronymus Münchhausen diente das fabulierende Übertreiben einem Zweck. Er wollte damit Angeber und Aufschneider bloßstellen. Sie ausstechen, sozusagen."
Der Fantasie sind in den Erzählungen jedenfalls keine Grenzen gesetzt. Auch in den späteren Kapiteln, als es den Baron als Kriegsgefangenen ins Osmanische Reich verschlägt, sind Ausflüge durchs Mittelmeer im Bauch eines Fisches oder bis zum Mond mithilfe der rasant wachsenden türkischen Bohnen an der Tagesordnung. Raum und Zeit sind keine Hindernisse, die Schwerkraft überwindet er mit Leichtigkeit, wie sein Ritt auf der Kanonenkugel bei der Belagerung einer türkischen Stadt beweist, die nicht näher benannt wird.
Der fiktive Münchhausen ist ein Draufgänger, der auf das "Ohngefähr", also den Zufall vertraut, wie es im Buch heißt. Der reale Münchhausen wiederum dürfte gewusst haben, welche Macht der Zufall entfalten kann - und wie wankelmütig das Schicksal ist, wenn man in einem fremden Land auf das Wohlwollen mächtiger Gönner angewiesen ist.
Im Juli 1739 nimmt er an der Hochzeit von Anton Ulrich und der russischen Thronerbin Anna Leopoldowna, einer Nichte der Kaiserin Anna Iwanowna, teil. Es ist das glanzvollste Fest dieses Jahrzehnts, allerdings überschattet von Hofintrigen, denn in Sankt Petersburg kämpfen verschiedene Fraktionen um die Macht - die Höflinge aus Braunschweig sind nicht überall beliebt. Und auch nicht immer gut bezahlt, wie wir wissen: In einem herzergreifenden Brief bittet Münchhausen "gehorsahmst" seine Mutter, ihm rasch "sehr feine Oberhemden" und dicke Unterziehstrümpfe zu schicken, die alten hat er beim Rekrutieren verloren.
Münchhausen hat Glück. Er wird als Offizier nach Riga geschickt, in die Hauptstadt Livlands, wo man mehrheitlich Deutsch spricht und von den politischen Kabalen des Zarenhofs verschont bleibt. So entgeht er dem Schicksal seines früheren Dienstherrn: Nach kurzer Zeit als Generalissimus der russischen Armee wird Anton Ulrich gemeinsam mit seiner Gemahlin festgenommen und in die Verbannung geschickt. Als Zarin herrscht nun die für ihre Günstlingswirtschaft bekannte Elisabeth I. Münchhausen dient ihr als kaiserlich-russischer Rittmeister.
1753 kehrt er in seine alte Heimat zurück und übernimmt nach dem Tod seiner Mutter und seines ältesten Bruders das Familiengut in Bodenwerder. Da ist er schon fast zehn Jahre mit der Gutsbesitzertochter Jacobine von Dunten verheiratet, die er während seiner Zeit in Riga kennengelernt hat. Eine kinderlose, aber wohl glückliche und lange Ehe in der Provinz.
In der Nazi-Zeit diente "Münchhausen" der Ablenkung
Tina Breckwoldt hat für ihre Biografie Quellen, Literatur und Briefe gesichtet, aber auch die Biografien der beiden Männer durchleuchtet, die den Mythos Münchhausen überhaupt erst begründet haben: der Schriftsteller, Bibliothekar und Gelehrte Rudolf Erich Raspe und der Dichter Gottfried August Bürger.
Sie waren es, die mit ihren Büchern den Freiherrn noch zu seinen Lebzeiten zur Legende machten. Zunächst erschien 1781 im "Vademecum für lustige Leute" eine Sammlung von Geschichten, die einem Herrn M-h-s-n zugeschrieben wurden. Raspe übersetzte sie ins Englische, als er in London lebte. Bürger wiederum fiel der kleine Erzählband zufällig in die Hände, er übersetzte sie wieder zurück ins Deutsche - mit noch mehr erfundenen Geschichten und Erweiterungen. Das Buch wurde rasch zum Bestseller.
Der Ufa-Film von 1943 mit Hans Albers in der Hauptrolle fügte dem Baron ganz neue Facetten hinzu und hat das Münchhausen-Bild nachhaltig geprägt. In dieser für damalige Verhältnisse technisch brillanten Produktion erscheint der Freiherr als geborener Salonlöwe und Frauenheld, er verführt sogar die russische Zarin Katharina die Große (historisch großer Unsinn) und darf ins 20. Jahrhundert reisen. Für die Filmindustrie der Nazis war "Münchhausen" ein Prestigeprojekt, für das ausgerechnet der eher regimekritische Erich Kästner als Drehbuchautor engagiert wurde. Eskapismus für ein Volk, das Ablenkung vom Krieg brauchte und nun einen Helden bekam, der fröhlich auf der Kanonenkugel ritt.
Noch einmal zurück zum echten Münchhausen. Offenbar ist er in seinen späteren Lebensjahren ein begeisterter Geschichtenerzähler, ein Pferdenarr und passionierter Jäger. Er lädt gerne Gäste nach Bodenwerder, auch Bekannte, die er bei seinen Aufenthalten in Göttingen und in Pyrmont trifft, wo es Kurbäder und Tanzsäle gibt. Im Kreise seiner Zuhörer, bei Punsch und Tabakpfeife, lebt Münchhausen seine Fabulierlust aus, er schwelgt in alten Zeiten. Teilnehmer der fröhlichen Runden loben seinen herzhaften, oft trockenen Humor.
Doch als 1786 die "Wundersamen Reisen des Freiherrn von Münchhausen" anonym auf Deutsch erscheinen, ist er schockiert. Münchhausen fühlt sich verraten und verkauft - schließlich verdienen andere mit seinem Namen viel Geld. Wer hat seine Geschichten heimlich weitergegeben, wer hat sie aufgeschrieben und verfälscht? Da war wohl ein talentierter Autor am Werk, einer, der aus einem kleinen Landadligen einen Weltstar der Übertreibung machte.
Was für den realen Münchhausen noch schwerer wiegt: der Ruf als "Lügenbaron", der ihm künftig zu Unrecht anheftet. Auf seine alten Tage will er gegen die mutmaßlichen Autoren und Verleger vor Gericht ziehen. Doch solche Prozesse sind ein hohes finanzielles Risiko, und zu gewinnen gibt es wenig.
Ohnehin geht es mit ihm nun bergab, 1790 stirbt seine geliebte Frau Jacobine, und als er mit 73 die ein halbes Jahrhundert jüngere Bernhardine von Brunn heiratet, endet das schon bei der Hochzeitsfeier mit einem Fiasko - eine teure Scheidung zehrt bald an seinen Nerven. 1797 stirbt Hieronymus von Münchhausen in Bodenwerder. Da ist er längst unsterblich.