Süddeutsche Zeitung

Mobilität:Wo der Stau ist

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Die Menschen müssen von Ort zu Ort, aber sie kommen kaum noch voran. Das liegt vor allem daran, dass Verkehrspolitik in Deutschland kaum noch stattfindet.

Von Gerhard Matzig

Mobilität in Deutschland, darunter könnte man sich Fahrradwege vorstellen oder Autobahnen, Bahnschienen, Flussläufe oder die Startpisten der Flughäfen. Etwas, das sich mit dem Horizont verbinden lässt oder mit der Sehnsucht des Unterwegsseins. Tatsächlich scheint diese Mobilität als gesellschaftliche Utopie derzeit in einer Sackgasse zu enden; vielleicht auch in einem Irrweg. Die Mobilität ist, als Freiheitsversprechen zumal, ein System, dessen Zumutungen man so oder so kaum entkommt. Der Radler so wenig wie der Autopendler, der Flaneur im Fußgängerzonenstau so wenig wie der U-Bahn-Fahrgast, der Billigfliegende so wenig wie der ICE-Stammkunde.

Ob man unterwegs ist als Dienstreisender, als Jobnomade, einer Fernbeziehung oder der Patchwork-Familie wegen: Das Unterwegssein wird einem genau dann beschwerlich, da Mobilität in allen Sphären der Gesellschaft als kulturelle Übereinkunft gilt. Es ist, als erhielte man den Befehl, sich stante pede aufzumachen, sofort, während einem im gleichen Augenblick Fußfesseln angelegt werden.

Wollte man etwa zu Beginn des Jahres noch über die Meldung lachen, dass sich am neuen Flughafen Berlin-Brandenburg, dieser in Beton und Unfähigkeit erstarrten Karikatur der Mobilität, jetzt auch noch die Wasserrohre für die Sprinkleranlage als falsch dimensioniert herausgestellt haben, so konnte man am Ende des Jahres nur noch verärgert zur Kenntnis nehmen, dass das Fliegen als Folge der Air-Berlin-Pleite immer teurer wird in Deutschland. Bequemer oder pünktlicher wird es dagegen nicht. Also das Transportmittel wechseln? Die Bahn nehmen?

Die verkündet Ende November, dass ihr Projekt Stuttgart 21, eine weitere Karikatur Deutschlands, eine Milliarde Euro teurer wird. Also noch, noch, noch teurer. Und später fertig wird der Bahnhof sowieso. Keine zwei Wochen nach dieser Meldung blamiert sich dann die Bahn vor aller Welt auf der neuen ICE-Trasse von Berlin nach München: Nach einem Vierteljahrhundert Planung sowie Kosten von zehn Milliarden Euro gelangten die 200 Ehrengäste aufgrund technischer Pannen letztlich nur fünf Minuten schneller als sonst ans Ziel.

Bleibt das Auto. Leider gab es 2017 einen "Pendler-Rekord". Jetzt sind es an die 20 Millionen Menschen, die oft lange Wege zum Arbeitsplatz in Kauf nehmen. Viele von ihnen sind mit dem Pkw unterwegs. 2017 war deshalb auch das Stau-Rekordjahr. Alles in allem war es kein gutes Jahr für die Mobilität einer Nation, deren Brücken und Straßen marode sind, deren Luftraum überfüllt ist und deren Nahverkehr im Investitionsstau steckt. Fast schon zynisch wirkte da die Meldung vom Schiff, das an Weihnachten auf dem Rhein den Pfeiler einer Brücke rammte.

Mobilität ist der Megatrend, ja fast ein Dogma der Epoche. Geistige und räumliche Mobilität, dynamische Volkswirtschaften, turbohaft beschleunigte Daten, Waren und Menschen ... dem würde man sich bisweilen gern entziehen. Dann hielte man es mit dem Philosophen Blaise Pascal, der im 17. Jahrhundert meinte: "Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." Aber abgesehen davon, dass jetzt, zwischen den Jahren, die Zeit für ein solches Innehalten günstig erscheint, lässt sich das Rad der Zeit nun mal nicht zurückdrehen.

Verkehrspolitik findet in Berlin seit Jahren kaum noch statt

Die Mobilität, deren lateinische Herkunft "mobilitas" sowohl positiv (Beweglichkeit, Gewandtheit) als auch negativ (Wankelmut, Unbeständigkeit) gedeutet wird, ist keine Plage der Neuzeit. Schon die Vor- und Frühgeschichte kannte die Mobilität der ersten Sammler und Jäger lange vor der zivilisatorisch wirksamen Sesshaftigkeit. Das Sich-Bewegen ist dem Menschen eingeschrieben. Es beginnt noch vor der Geburt ("Fühl mal, wie es sich bewegt") und endet nicht einmal im Tode, wenn wir zu Grabe getragen werden. Es ist illusorisch, sich eine Welt vorzustellen, die etwas anderes wäre als reine Osmose, Austausch und Wandel.

Muss man aber nun inmitten des rasenden Stillstands kollabierender Verkehrssysteme auf die Erfindungen von morgen warten, auf das fliegende Auto oder das Beamen? Näher läge die Utopie, wonach sich die deutsche Verkehrspolitik, von der man jahrelang nur die Worte "Maut" oder "Diesel" gehört hat, endlich auf ihre fundamentale Aufgabe besinnt. Infrastruktur ist eine Hoheitsaufgabe. Mobilität ist in diesem Sinn eine Frage kluger Vernetzung und interdisziplinärer Synchronisation. Die Technik für eine funktionierende, ökologisch vertretbare und ökonomisch zweifellos bedeutsame Mobilität gibt es längst. Was fehlt, ist geistige Mobilität. Im Stau steckt der politische Wille.

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Quelle:
SZ vom 29.12.2017
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