Süddeutsche Zeitung

Migranten:Flucht vor dem Krieg, Suche nach Demokratie

Lesezeit: 5 min

Von Markus C. Schulte von Drach

Etwa 1,1 Million Flüchtlinge sind seit Anfang 2015 bis September 2016 nach Deutschland gekommen. Das hat zu einer besonderen Herausforderung für die Gesellschaft geführt, in der die Schutzbedürftigen untergebracht und versorgt werden müssen. In einem Teil der Bevölkerung haben die Flüchtlinge sogar Angst und Ablehnung ausgelöst.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung befragt derzeit gemeinsam mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie dem Sozio-oekonomischen Panel Migranten, um eine repräsentative Datengrundlage über die Geflüchteten zu schaffen. Etwa 2300 Migranten haben inzwischen die rund 450 Fragen der Experten beantwortet, insgesamt wollen die Experten mindestens 4500 Flüchtlinge befragen.

Ein - vorläufiges - Ergebnis der Studie haben die Behörden jetzt vorgestellt. "Die zu uns kommenden Menschen sind gerade wegen unserer Werte und Bürger- sowie Minderheitenrechte nach Deutschland gekommen", sagte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) bei der Veröffentlichung. "Ich hoffe, dass diese Erkenntnisse zur Versachlichung der Debatte in Deutschland beitragen werden."

Wie es in der Studie heißt, sind die Geflüchteten "in Hinblick auf ihre Biografien, ihren Bildungshintergrund, ihre Wertvorstellungen und Persönlichkeitsmerkmale sehr heterogen". Es bestünden aber "erhebliche Potenziale für die Integration in das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt".

70 Prozent der Migranten gaben als Fluchtursache Angst vor Konflikten und Kriegen an - das traf besonders für Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Iran zu. Weil sie verfolgt wurden, sind demnach 44 Prozent geflohen, 38 Prozent wegen Diskriminierung und 36 Prozent - insbesondere jene Flüchtlinge aus Eritrea - vor einer Zwangsrekrutierung als Soldat.

Dazu kamen - vor allem bei Menschen aus Westbalkan-Staaten - schlechte persönliche Lebensbedingungen (39 Prozent) und die wirtschaftliche Situation (32 Prozent).

Flucht nach Deutschland wegen der Menschenrechte

Warum sich die Migranten gerade Deutschland als Ziel ausgesucht hatten, begründeten fast drei Viertel mit der Achtung der Menschenrechte. Immerhin 43 Prozent gaben das Bildungssystem als Grund an, 42 Prozent sagten, das Gefühl, hier willkommen zu sein, hätte zu ihrer Entscheidung geführt.

Die wirtschaftliche Lage oder das Wohlfahrtssystem in Deutschland hat dagegen nur ein Viertel der Befragten bewegt, ausgerechnet hierher zu kommen.

Für einen großen Teil der Migranten verlief die Flucht dramatisch: Ein Viertel gab an, Schiffbruch erlitten zu haben, 40 Prozent wurden Opfer von Gewalt. Ein Fünftel hatte Raubüberfälle erlebt. Und 15 Prozent der geflüchteten Frauen waren Opfer sexueller Übergriffe. Dazu wurden mehr als die Hälfte der Flüchtlinge auf der Flucht auf die eine oder andere Weise betrogen.

Demokratie, mächtige Experten oder starker Führer?

Angesichts der Befürchtung mancher Deutscher ist wohl vor allem die Frage nach dem Demokratieverständnis der Flüchtlinge von Bedeutung. "So stimmen 96 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass man ein demokratisches System haben sollte", sagte Jürgen Schupp vom Sozio-oekonomischen Panel am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Ein Vergleich mit entsprechenden Zahlen des World Values Survey, der derzeit umfangreichsten Umfrage über Werte weltweit, zeigt, dass der entsprechende Anteil in der deutschen Bevölkerung hier bei 95 Prozent liegt (Umfrage von 2010-2014).

Dagegen unterstützten 20 Prozent der Geflüchteten vollständig oder teilweise die Idee eines "starken Führers, der sich nicht um ein Parlament und um Wahlen kümmern muss". Und 55 Prozent fanden teils oder vollständig, dass Experten darüber entscheiden sollten, was für das Land das Beste ist, nicht die Regierung. Dem World Values Survey zufolge lag der Anteil der Deutschen mit dieser Meinung in beiden Fällen sogar noch höher als unter den Migranten.

92 Prozent der Flüchtlinge gaben an, dass Männer und Frauen gleiche Rechte haben sollten, 93 Prozent halten "Bürgerrechte als Schutz der Menschen vor staatlicher Unterdrückung" für bedeutsam. Allerdings stimmte jeder Zehnte zu, dass "Religionsführer die Auslegung der Gesetze bestimmen" sollten. Unter Deutschen ist der Anteil hier immerhin acht Prozent.

In einigen Herkunftsländern der Flüchtlinge ist eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die Trennung von Staat und Religion. Den Wissenschaftlern zufolge liegt demnach offensichtlich "eine starke Selektion der Geflüchteten im Vergleich zu den Bevölkerungen der Herkunftsländer vor". Mit anderen Worten: Bei den Migranten handelt es sich überwiegend um Menschen, deren Haltung eher derjenigen im Westen entspricht als der ihrer Landsleute.

Auch der Anteil derjenigen, die eine Arbeit für Frauen als beste Möglichkeit betrachten, unabhängig zu sein, liegt mit 86 Prozent höher als unter Deutschen (72 Prozent). Allerdings, so die Wissenschaftler, sollte hier berücksichtigt werden, "dass zwischen der Zustimmung zu eher abstrakten Normen und den im Alltag tatsächlich gelebten Werten erhebliche Unterschiede auftreten können".

Von großer Bedeutung für eine Integration ist die soziale Teilhabe über den Kontakt mit Deutschen. 60 Prozent der Befragten haben mindestens einmal die Woche Kontakt zu Deutschen. Allerdings steigt die Zahl neuer Kontakte als auch die Intensität zum einen mit dem Bildungsstand. Zum anderen haben Geflüchtete häufiger Kontakt zu Deutschen, wenn sie dezentral untergebracht sind, insbesondere in kleineren Kommunen.

Natürlich ist der "Kontakt" mit Deutschen nicht immer positiv. Zehn Prozent der Geflüchteten haben "häufig Diskriminierungserfahrungen" gemacht, 36 Prozent immerhin selten. Damit werden sie etwas häufiger Opfer von Diskriminierung als der Durchschnitt der Migrationsbevölkerung in Deutschland. Hier lag der Anteil der Betroffenen 2015 insgesamt bei 32 Prozent.

Heterogenes Bildungs- und Ausbildungsniveau

Welche Folgen die Zunahme der Ausländerzahlen für die Gesellschaft und die Wirtschaft in Deutschland haben kann, hängt zum Teil vom Bildungs- und Ausbildungsniveau der Flüchtlinge ab, und natürlich von den Werten, die ihnen wichtig sind. Wie die Umfrage ergab, verfügen unter den befragten Erwachsenen 32 Prozent über einen weiterführenden Schulabschluss, 22 Prozent über den Abschluss einer Mittelschule. Fast jeder fünfte Migrant hat eine Universität oder Hochschule besucht und 13 Prozent verfügen über einen Hochschulabschluss. Zwölf Prozent haben eine Berufsausbildung, sechs Prozent einen entsprechenden Abschluss.

Da viele Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern allerdings auch ohne formelle Ausbildung Berufe ausgeübt haben, könnten sie auch in Deutschland über verwertbare berufliche Fähigkeiten verfügen, heißt es in der Studie.

Nur zehn Prozent hatten dagegen lediglich eine Grundschule besucht, neun Prozent gar keine Schule. Insgesamt hatte etwa jeder Vierte überhaupt keinen Abschluss. Das Interesse an Bildung und Ausbildung ist unter den Geflüchteten aber hoch: 46 Prozent wünschen sich noch einen Schulabschluss. Und "rund zwei Drittel wollen noch einen beruflichen Abschluss oder ein Hochschulstudium in Deutschland absolvieren", sagte Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei der Vorstellung der Studie.

Wunsch nach Arbeit

Mit 97 Prozent wollen die meisten der männlichen Flüchtlinge, die noch nicht arbeiten (können), weil sie zum Beispiel noch im Asylverfahren sind, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Unter den Frauen sind es 85 Prozent. 14 Prozent gehen bereits einer Arbeit nach, allerdings nur ein Drittel davon in Vollzeit.

Problematisch ist, dass sich viele der Flüchtlinge, die in der jüngeren Vergangenheit gekommen sind, noch im Asylverfahren befinden und ihre Deutschkenntnisse gering sind. Das Interesse, die Sprache zu erlernen, ist aber groß. Unter Geflüchteten, die länger als zwei Jahre in Deutschland sind, gehen 32 Prozent davon aus, schon über gute oder sehr gute Sprachkenntnisse zu verfügen. Hilfreich ist hier, dass "die Sprachförderung der Geflüchteten seit dem vergangenen Jahr deutlich zugenommen hat", berichten die Wissenschaftler.

Das Fazit der Fachleute ist: "Auch wenn diese Integration erst am Anfang steht, kann künftig mit Fortschritten gerechnet werden."

(Mit Material von Reuters und dpa)

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