Süddeutsche Zeitung

CDU:Merkel agierte nicht ideologiefrei

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Rezension von Nico Fried

Es ist noch keine drei Monate her, dass Angela Merkel ihren Einstieg in den Ausstieg ankündigte - schon liegt ein Buch über ihre Bilanz als Kanzlerin vor. Stephan Hebel hat es geschrieben, Autor für die Frankfurter Rundschau und den Deutschlandfunk. Dass er der schnellste war, stellt das Buch unter den Verdacht unangemessener Hektik, doch gehört der Autor seit vielen Jahren zu den profiliertesten Kritikern der Wirtschafts- und Sozialpolitik Gerhard Schröders und Angela Merkels. Das Fundament hat Hebel über Jahre gegossen, "Merkel - Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft" ist somit auch ein Buch gewordener Ausbau seines publizistischen Wirkens.

Auf etwas mehr als 100 Seiten versucht Hebel aufzuzeigen, dass Merkel nicht so ideologiefrei agiert hat, wie es ihr nachgesagt wird, sondern bis heute eine neoliberale Agenda verfolgt, in der die Interessen der Wirtschaft Vorrang genießen. Gravierender noch ist aber der Vorhalt, Merkel habe im Mitwirken an Schröders Agenda-Politik wie auch in den Jahren ihrer Kanzlerschaft maßgeblich zu einer Spaltung der Gesellschaft beigetragen, die durch ihre Flüchtlingspolitik nicht verursacht, sondern nur noch verstärkt, beschleunigt und offengelegt worden sei.

Hebel greift von links an. Seine Erwartung an den Staat ist hoch, was das Herstellen von Gerechtigkeit als auch die Radikalität der Instrumente angeht. Trotzdem hat er keine wütende Kampfschrift geschrieben, sondern eine pointierte und oft um Abwägung bemühte Bilanz. Vor allem zu Merkels Sozialpolitik ist es eigentlich ein Zwar-aber-Buch geworden.

Das "Zwar" bezieht sich auf unbestreitbar Positives, zum Beispiel den Rückgang der Arbeitslosenzahl, den Anstieg der Beschäftigung oder die familienpolitischen Fortschritte. Das "Aber" untersucht dann die Details eines gewachsenen Niedriglohnsektors, die sozialen Auswirkungen von Hartz IV oder die Grenzen der frauenpolitischen Ambitionen Merkels. Manche Defizite sind offenkundig, einige Zahlen deprimierend, die Schlüsse durchaus streitbar, aber als Anstoß zur Diskussion durchaus geeignet.

Eine ans Unpolitische grenzende Unwucht

Es hätte dem Buch nicht geschadet, wenn Hebel sich auf die Sozial- und Wirtschaftspolitik beschränkt hätte. Seine Analysen zur Außen- oder Innenpolitik zum Beispiel fallen arg oberflächlich aus. Da überlässt der Analytiker das Feld zu oft dem Leitartikler.

Das größte Manko aber besteht darin, dass Hebel seinem Vorwurf, Merkel hätte mehr gekonnt, wenn sie nur gewollt hätte, kaum die innenpolitischen Zwänge, europäischen Widerstände und die Verantwortung anderer Akteure gegenüberstellt. Hier endet die Bereitschaft zur Abwägung. Gemessen an der Fokussierung aufs Politische, die er im Umgang mit Merkel einfordert, leistet sich Hebel damit selbst in diesem Punkt eine ans Unpolitische grenzende Unwucht.

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Quelle:
SZ vom 21.01.2019
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