Süddeutsche Zeitung

MEINE PRESSESCHAU:Von physischen und virtuellen Mauern

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Von Frank Nienhuysen

Mauerfall? In Russland verblasst das epochale Ereignis mit dem Heranwachsen neuer Generationen. "Das Berliner Syndrom" titelt die regierungsfreundliche Iswestija und meint damit, dass fast jeder fünfte Russe zwischen 18 und 24 Jahren jetzt zum ersten Mal überhaupt vom Fall der Mauer gehört habe. Immerhin, die überragend große Mehrheit der Menschen in Russland denkt positiv über das Verschwinden der deutsch-deutschen Grenze. Die Wirtschaftszeitung Wedomosti schreibt, das Ende der Berliner Mauer habe die "Überlegenheit einer marktorientierten, demokratischen Gesellschaft gegenüber einer Gesellschaft mit einer staatlichen Wirtschaft und einem totalitären ideologischen System" gezeigt. Dass die Berliner Mauer fallen würde, sei "nur eine Frage der Zeit gewesen", meint die für ihre außenpolitischen Analysen bekannte Nesawissimaja Gaseta, weil die Sowjetunion "extrem geschwächt gewesen ist". Sehr verschieden aber werten russische Medien, wie es 30 Jahre später aussieht.

Viele Menschen in der Sowjetunion hätten in der Umbruchzeit "einen gewissen Optimismus empfunden, verbunden mit einem besseren Verhältnis zum Westen. Doch diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt", zitiert die Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta einen Politologen. Sie nutzt den Jahrestag für einen kritischen Blick auf das heutige Europa. In den drei Jahrzehnten "scheint 'das befreite Europa' noch mehr neue Mauern und Zäune auf dem ganzen Kontinent gebaut zu haben", heißt es. Diese neuen Mauern "verkörpern die Ängste der Europäer, vor allem vor Migranten und Flüchtlingen".

Der Publizist Andrej Kolesnikow greift in der regierungskritischen Zeitung RBK einige "verbreitete pessimistische Ansichten" auf: dass Europa gespalten sei, die Populisten marschierten, das Verhältnis mit den USA furchtbar sei, mit Russland schrecklich, und dass Ostdeutsche die AfD wählten. "Diese Sichtweise aber vereinfacht die Wirklichkeit", schreibt er. "Die deutsche Einheit hat den Wohlstand deutlich vergrößert." Und auch wenn Ungarns Premier Viktor Orbán Kremlchef Wladimir Putin umarme, "so kann er doch nicht den europäischen Weg verlassen ohne katastrophale Folgen für sein Land". Kolesnikow meint vielmehr, "Russland ist an Europas Seitenrand zurückgeblieben". Es habe "nicht eine physische, aber eine virtuelle Mauer errichtet". Er begründet dies mit den niedrigen Umfragewerten für die Demokratie und dem geringen Stolz auf die Perestroika und den Beginn wirtschaftlicher Reformen.

Mit Ironie blickt der Kolumnist Dmitrij Bykow in seinem Blog beim Radiosender Echo Moskaus 30 Jahre zurück. "Der Fall der Berliner Mauer war zweifellos eine gute Sache - allerdings wurden mit ihr auch hervorragende Graffiti zerstört."

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Quelle:
SZ vom 09.11.2019
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