Süddeutsche Zeitung

"Mehr Demokratie wagen":Brandts Vermächtnis

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Die Rede des SPD-Kanzlers vor 50 Jahren war einer der größten Momente in der Geschichte seiner Partei. Sie zeigt aber auch, was dem Land heute fehlt.

Von Jens Schneider

Man könnte, will man es sich leicht machen, mal wieder über die SPD spotten, oder sie auch bemitleiden. Die Koinzidenz wäre ein Beleg für das Drama der SPD: Gerade bewerben sich die Kandidaten redlich, aber glanzlos um die Führung der ältesten Partei des Landes, deren Mitgliedschaft seit Jahren schrumpft, zugleich jährt sich einer ihrer größten Momente zum 50. Mal. Im Jahr 1969 stellten die Sozialdemokraten erstmals in der Bundesrepublik den Kanzler, und am 28. Oktober hielt Willy Brandt eine Regierungserklärung, die unter der Überschrift "Mehr Demokratie wagen" Geschichte machen sollte. Man kann diesen Moment feiern mit einem Blick auf Schwarz-Weiß-Fotos der Ikone Brandt, als wäre er nichts als Vergangenheit. Man kann beklagen, dass es heutzutage keine großen Redner mehr gebe, nicht nur in der SPD, und sich nur an der Erinnerung wärmen. Aber das würde bedeuten, den Wert dieser Rede zu unterschätzen.

Brandts erste Regierungserklärung ist viel mehr als eine Erinnerung an die besten Jahre der SPD in der Bundesrepublik. Sie kann als Anleitung gelesen werden, wie die Demokratie auch heute besser gelingen könnte, und sie kann diesem Land ein Spiegel sein.

Damals setzte Brandt das Zeichen für viele Veränderungen. Es brauchte einige Zeit, bis die Rede Wirkung entfaltete. Aber nach dem 28. Oktober 1969 konnte jeder wissen, dass die Bundesrepublik ein anderes Land werden sollte, mit mehr Mitbestimmung. Er versprach, die Nachkriegsgeneration einzubinden.

Dies war ein Signal an die Achtundsechziger, deren Proteste in der Rede nachhallten. Brandt kündigte Reformen für eine soziale und Rechts- und Lebensordnung an. Er skizzierte die neue Ostpolitik und sprach mit Blick auf die DDR von "zwei Staaten in Deutschland", die aber füreinander nicht Ausland seien: Ein geregeltes Nebeneinander sollte mehr Miteinander ermöglichen. All das geschah vor einem besonderen Hintergrund: Es regierte nun ein Mann, der einst vor den Nationalsozialisten ins Exil geflohen war, als junger Widerstandskämpfer. Er wurde deshalb von Konservativen beschimpft. Nun sprach er als Vertreter des anderen Deutschlands für das ganze Land.

Für die Bundesrepublik war dies wie ein zweiter Neuanfang. Es gab in jener unruhigen Zeit Sorgen, ob die junge Nachkriegsdemokratie überleben würde. Brandt versicherte nun, die Demokratie stehe nicht vor ihrem Ende, "wir fangen erst an". Das war für die Union ein Affront, aber sie nahm ihre neue Rolle als Opposition an. Der Machtwechsel bewies, dass die Demokratie funktionierte. Das Protokoll der Rede mitsamt den Zwischenrufen dokumentiert einen demokratischen Ethos: Man ist Gegner, aber nicht Feind.

So eine große Rede hat gefehlt in den letzten Jahren. Sie fehlte, als es um die Herausforderungen der Ankunft von Hunderttausenden Flüchtlingen ging. Die Worte "Wir schaffen das" hätten ein Teil davon sein können, wenn die Kanzlerin versucht hätte, diese Mischung aus Versprechen und Ermutigung in ein umfassendes Gedankengerüst einzubetten, wie Brandt es für seine Ziele tat. So eine Rede fehlt auch heute, aktuell zum Klimaschutz. Angela Merkel hat es bisher nicht versucht. Sie hat sich nur hier und da zu Zielen bekannt und kleine Wegmarken gesetzt.

Es geht nicht darum, die Sehnsucht nach Charisma zu bedienen. Aber wenn die Politik etwas verändern will, muss sie kraftvolle, klare Botschaften aussenden und den Weg zu Verbesserungen aufzeigen - auch damit der notwendige Streit darüber geführt werden kann. Das schaffte Brandts Rede. Sie steht mit ihrem Verständnis von Demokratie für den Aufbruch zu Offenheit und Beteiligung. Sie liest sich wie ein Rezept, das bis heute Gültigkeit besitzt: Seine Regierung wolle keine blinde Zustimmung, sie suche keine Bewunderer, sagte Brandt damals, sondern "Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten". Er bekannte mit dem nötigen Pathos: "Wir sind keine Erwählten. Wir sind Gewählte." Das Selbstbewusstsein so einer Regierung solle sich in Toleranz zu erkennen geben.

Aber woran liegt es, dass eine solche Rede heute nicht zu hören ist? Es wäre zu kurz gegriffen, nur in ein nostalgisches Schwelgen zu verfallen, dass es früher noch echte Kerle gab, Leute wie den von seiner Exil-Biografie geprägten Brandt. Er war ein besonderes Talent, aber man kann sich leicht ausmalen, woran einer wie er in der heutigen Welt der Twitter-Aufregungen scheitern könnte. Viele Politiker hüten sich vor einem Aufregungsapparat, in dem jede Eigenständigkeit zur Gefahr werden kann. Die Vorsicht der Angela Merkel ist zum Modell geworden. Statt "Mehr wagen" ist ihr Prinzip, höchstens kalkulierte Risiken einzugehen. In der SPD drängte einst eine kühne Enkel-Generation an die Macht. Nun wirken Brandts potenzielle Urenkel oft, als wollten sie ihm in Sachen Risikobereitschaft möglichst wenig nacheifern. Das kann man feige finden, aber es ist auch eine logische Überlebensstrategie.

Das Kernproblem heute ist nicht die Schärfe der Kritik. Willy Brandt ist wegen seiner Biografie viel härter und grundsätzlicher angegangen worden, als man das jetzt erlebt. Ähnlich galt das für andere Spitzenpolitiker der Nachkriegszeit. Damals aber prägte Ernsthaftigkeit die Debatten und die Erwartungen der Bürger. Heute wird oft die Sehnsucht nach großen Figuren bekundet, aber konterkariert von der Eilfertigkeit, mit der Eigenwilligkeit und jeder kleine Lapsus zur Katastrophe stilisiert werden - als wären sie ein Beleg für Unfähigkeit. Willy Brandts Rede vom 28. Oktober 1969 zeigt, was Deutschland heutzutage bräuchte: eine ernsthafte Suche nach den grundlegenden politischen Lösungen. Dazu gehören Mut, Vision und, wie er es nannte, eine "außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen". Das ist wunderbar ausgedrückt, und wer in diesem Appell heute nicht nur Pathos wittert, hat schon viel verstanden.

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Quelle:
SZ vom 26.10.2019
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