Süddeutsche Zeitung

Massive Unruhen in Großbritannien:Gewalt greift auf weitere Städte über

Lesezeit: 4 min

Brennende Geschäfte, Plünderungen und Drohungen gegen Passanten - die Lage in England eskaliert. In London fand die Polizei einen Mann, der aus mehreren Schusswunden blutete. Inzwischen breiten sich die Unruhen auf andere Städte aus - auch aus Birmingham, Liverpool und Bristol werden Krawalle gemeldet. Kurzfristig wurde das Länderspiel gegen die Niederlande im Londoner Wembley-Stadion abgesagt. Die Polizei ist mit der Situation völlig überfordert. Premierminister Cameron hat den Nationalen Sicherheitsrat einberufen.

Brennende Geschäfte, Lagerhallen und Autos, dazu Plünderungen und Drohungen gegen Passanten - die Lage in England eskaliert. Die seit drei Tagen andauernden Unruhen haben sich von der Hauptstadt London ausgeweitet und weitere Städte erfasst. In der Nacht kam es auch in Liverpool, Birmingham und Bristol zu massiven Ausschreitungen. Augenzeugen sprechen von Szenen wie in einem Kriegsgebiet.

Im Londoner Stadtteil Croyden wurde in einem Auto ein 26 Jahre alter Mann von der Polizei entdeckt, der aus mehreren Schusswunden blutete. Woher die Verletzungen stammen, war zunächst unklar. Hier brannte zudem ein ganzer Straßenzug, aus einem Möbellager schlugen noch in der Nacht meterhoch die Flammen.

In London nahm die Polizei drei Personen unter dem Verdacht auf versuchten Polizistenmord fest. Der Beamte war am frühen Dienstagmorgen in Brent im Norden der Hauptstadt angefahren worden und musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Gemeinsam mit einem Kollegen - der leichte Verletzungen davon trug - hatte er nach der Plünderung eines nahe gelegenen Elektronikgeschäfts mehrere Fahrzeuge angehalten. Dabei sei ein Auto davon gefahren und habe den Beamten erfasst, teilte die Polizei mit. Das Fahrzeug sei später erneut gestoppt und drei Personen festgenommen worden.

Viele Stadtteile Londons sind inzwischen von der ausufernden Gewalt betroffen: Von Hackney im Osten, über Clapham, Croydon, Peckham und Lewisham im Süden, Camden im Norden bis nach Ealing im Westen.

Außerhalb von London kam es zunächst in Birmingham, der zweitgrößten Stadt Englands, zu Ausschreitungen. Ein Juwelier- und Elektronikgeschäfte wurden geplündert und eine Polizeiwache in Brand gesetzt wurde.

In der Nacht zu Dienstag folgten erste Berichte über Ausschreitungen in Liverpool. Mehrere hundert Vermummte waren dort durch die Straßen gezogen, stoppten vorbeifahrende Autos, zwangen die Insassen zum Aussteigen und steckten anschließend die Fahrzeuge in Brand. Auch aus Bristol wurden in den frühen Morgenstunden erste Unruhen bekannt.

Gruppen gewalttätiger Kinder randalieren in den Straßen

Die britische Innenministerin Theresa May verteidigte das Vorgehen der Polizei. "In Großbritannien halten wir niemanden mit Wasserwerfern zurück", sagte May in einem Fernsehinterview. Stattdessen setze sie auf die Mitarbeit der Menschen vor Ort - so funktioniere britische Polizeiarbeit. Sie rief die Eltern der randalierenden Jugendlichen und die Vertreter der Gemeinden auf, den Behörden dabei zu helfen, die Gewalttäter auf den Bildern der Überwachungskameras zu identifizieren.

Die Polizei scheint mit der Situation bisher völlig überfordert zu sein. 1700 zusätzliche Beamte waren in der Nacht zum Dienstag in die Krawallgebiete Londons geschickt worden, dennoch breiteten sich Chaos und Gewalt aus. Sogar Gruppen gewalttätiger Kinder zwischen zehn und 14 Jahren sollen sich an den Ausschreitungen beteiligt haben. Die Londoner Polizei forderte Eltern auf, ihre Kinder in der Nacht auf Mittwoch zu Hause zu behalten. Pläne, die Streitkräfte zur Beilegung der Ausschreitungen hinzuzuziehen, gibt es nach Angaben des Londoner Polizeichefs bislang nicht.

"Die Schlacht um London"

"Was hier passiert, kann einfach nicht entschuldigt werden", sagte Scotland-Yard-Chefin Christine Jones. "Die Schlacht um London", schrieben britische Zeitungen. Premierminister Cameron reagierte auf die anhaltende und weiter zunehmende Gewalt und beendete vorzeitig seinen Sommerurlaub. Am heutigen Dienstag soll der Nationale Sicherheitsrat zu einer Sondersitzung zusammenkommen, um die Lage und mögliche Gegenmaßnahmen zu besprechen.

"Opportunistische Kriminelle" nannte Vizepremierminister Nick Clegg die Randalierer, sie hätten schon jetzt "große Narben" in der Gesellschaft hinterlassen. Wie Clegg war auch Innenministerin Theresa May vorzeitig aus den Ferien zurückgekehrt. May verurteilte die Krawalle als "Verbrechen". Die Gewalt habe ein Ausmaß erreicht, das Großbritannien seit Jahren nicht gesehen habe.

Mehr als 450 Menschen seien in den vergangenen drei Nächten allein in London festgenommen worden, wo inzwischen sämtliche Arrestzellen belegt seien. May will sich mit dem Leiter der Londoner Polizei und anderen hochrangigen Sicherheitskräften treffen, um deren Strategie zu besprechen.

Auch Londons Bürgermeister Boris Johnson wird britischen Medienberichten zufolge vorzeitig aus seinem Urlaub zurückkehren. Johnson reagiert damit auf Kritik, die nach den Ausschreitungen am Wochenende laut geworden war. Der konservative Politiker hatte sich zunächst geweigert, seinen Urlaub abzubrechen.

Die zumeist jungen Randalierer sprechen sich per Mobiltelefon und über den Internet-Dienst Twitter ab. Zudem nutzten sie offenbar einen kostenlosen Textdienst auf Blackberry-Handys. "Das ist der Aufstand der Arbeiterklasse. Wir verteilen den Wohlstand um", sagte Bryan Phillips. Der 28-Jährige bezeichnete sich als "Anarchist".

Wegen der schweren Krawalle wurde ein Länderspiel zwischen England und den Niederlanden abgesagt. Das teilte der englische Verband FA nach einem Treffen mit Vertretern der Polizei mit. Das Spiel gegen den Vize-Weltmeister sollte am Mittwochabend im Londoner Wembley-Stadion stattfinden.

Zuvor waren kurzfristig vier Partien des Ligapokals abgesagt worden. Die Spiele in London von West Ham United gegen Aldershot Town, Charlton Athletic gegen den FC Reading und Crystal Palace gegen Crawley Town wurden auf Anraten der Polizei ebenso auf einen unbestimmten Zeitpunkt verlegt wie die Begegnung von Bristol City mit Swindon Town.

Auswärtiges Amt rät, bestimmte Londoner Stadtviertel zu meiden

Begonnen hatten die Unruhen in der Nacht zu Sonntag in Londons Problemviertel Tottenham. Dort war zwei Tage zuvor der 29 Jahre alte Mark Duggan von einem Polizisten erschossen worden. Unklar war, ob der vierfache Familienvater, das Feuer eröffnet hatte. Der Mann hatte nach Darstellung der Polizei bei einer Kontrolle aus einem Taxi auf die Fahnder geschossen.

Eine Kugel, die das Funkgerät eines Polizisten traf, stammte nach einer ersten Untersuchung aber offenbar aus einer Polizeiwaffe, berichteten mehrere britische Medien. Am Dienstag sollen Ergebnisse ballistischer Tests veröffentlicht werden. Nach dem Tod Duggans hatten Randalierer in Tottenham begonnen, Büros, Wohnungen, Geschäfte und Fahrzeuge zu plündern und in Brand zu setzen.

Das Auswärtige Amt hat wegen der Krawalle seine Reisehinweise für Großbritannien geändert. Reisenden wird geraten, besondere Vorsicht walten zu lassen und sich "bei Anzeichen von Ausschreitungen zurückzuziehen". Insbesondere nachts sollten unbekannte Gegenden und bestimmte Viertel in der britischen Hauptstadt gemieden werden.

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