Süddeutsche Zeitung

Libyscher Machthaber Gaddafi:Von Getreuen verlassen

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Zuerst der Erdölminister und ein hoher Sicherheitsmann, zuletzt Gaddafis ältester Kampfgefährte Dschallud: Immer mehr Getreue wenden sich von Libyens Herrscher ab. Die Rebellen setzen jetzt auf einen sehr schnellen Sturz des Despoten.

Rudolph Chimelli

Für den Zerfall der Macht von Muammar al-Gaddafi wiegt kein Indiz so schwer wie die Tatsache, dass sich Abdessalam Dschallud, sein ältester Kampfgefährte und einstmals zweiter Mann des Regimes, aus Tripolis abgesetzt hat.

Dschallud gelang mit seiner Familie in der Nacht zum Samstag die Ausreise nach Tunesien. Von Djerba aus flog er nach Italien weiter und richtete über den Sender al-Dschasirah einen Aufruf an Gaddafis Stamm, die Gaddadfa, sich zu erheben. "Ihr seid ein ehrenhafter Stamm", erklärte Dschallud. "Ihr müsst eure Geschichte und eure Ehre schützen. Wendet euch von dem Tyrannen ab, denn er wird verschwinden, und dann hättet ihr seine Erbschaft zu tragen."

Die Behauptung aus Rebellenkreisen, Dschallud sei zu ihnen übergelaufen, scheint nicht zu stimmen: Es sähe ihm nicht ähnlich. Zu Beginn des Aufstands gab es mehrere Versuche, Dschallud für eine Übergangslösung zu gewinnen, doch er winkte ab. Offenbar will er nicht Partei ergreifen und eine eigene Rolle erst übernehmen, wenn Gaddafi gestürzt ist und die Rebellen sich nicht einig werden können.

Dschallud gehört den Megraha an, einem Stammesverband, der mit den Gaddadfa traditionell rivalisierte. Doch während der Revolutionsführer seinen Massenstaat errichtete, war Major Dschallud ein Mann der härtesten Linie. Bei den Stämmen um Bengasi hat er heute nur noch wenig Freunde.

Kurz vor Dschallud war Erdölminister Omran Bukraa desertiert, und ein hoher Sicherheitsmann, Nasser al-Mabruk Abdullah, war mit seiner Familie über Tunesien nach Kairo geflohen. Dschallud und Gaddafi waren einst Schulkameraden in Sebha. Gemeinsam wurden sie in die Militärakademie von Bengasi aufgenommen, wo sie jene Verschwörung der "Freien Offiziere" anführten, die Ende September 1969 König Idris stürzten.

Kaum mehr Zweifel an Gaddafis Sturz

Danach wurde Dschallud stellvertretender Vorsitzender des Revolutionsrates. Als er kurz darauf den internationalen Ölgesellschaften eine Preiserhöhung abzwang, verhandelte er mit einer Pistole auf dem Tisch. Einmal sprach er in Peking vor, um den Chinesen für 100 Millionen Dollar eine Atombombe abzukaufen. Mit ihr wollte er den arabisch-israelischen Konflikt "ein für alle Mal lösen". Chinas Premierminister Tschou En-lai lehnte ab. Lange Zeit war Dschallud Libyens Regierungschef. Als er sich Mitte der Neunzigerjahre mit Gaddafi überworfen hatte, blieb er stark genug, um seine Stammesgenossen Abdel Basset al-Megrahi und Amin Chalifa Fhima, die Attentäter von Lockerbie, noch jahrelang vor der Auslieferung zu bewahren.

Nachdem in der Nacht zum Sonntag in Tripolis das Feuer schwerer Waffen zu hören gewesen war, mit denen Gaddafis Kräfte den Aufständischen begegneten, meldete sich der Machthaber selbst mit einer Botschaft, die vom Fernsehen ausgestrahlt wurde. Er beschuldigte darin den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, er wolle die Wahlen gewinnen, indem er seinem Volk sage: "Voilà, ich schenke euch das Erdöl Libyens." Doch Sarkozys Agenten, "diese Ratten, sind von der Bevölkerung heute Nacht angegriffen worden, und wir haben sie ausgelöscht". Jetzt seien die Freudenfeuerwerke lauter als die Bomben der Feinde.

Obwohl am Ausgang des Kräftemessens kaum mehr ein Zweifel besteht, bleibt die Lage militärisch verworren. Gerüchte, Gaddafi sei geflohen, haben sich als voreilig erwiesen. Von einer heimlichen Ausreise nach Algerien war die Rede, von der Flucht seiner Familie nach Tunesien. Auch die Berichte über Kompromissverhandlungen zwischen Beauftragten des Regimes und der Rebellen auf der tunesischen Insel Djerba sind nicht verstummt. Der Pariser Vertreter der Aufständischen, Saif al-Nasr, bestätigt sie immerhin mit der kryptischen Formulierung "Libyer reden über die Zukunft Libyens".

Wie lange sich Gaddafi noch hält, ist schwer abzuschätzen. In Tripolis leben zwei Millionen Menschen. Viele von ihnen sind Anhänger Gaddafis oder Begünstigte seines Regimes. Wenn eine militärische Besetzung durch die Aufständischen in Formen stattfinden soll, die für die westlichen Verbündeten politisch verträglich sind, ist noch viel Vorarbeit nötig. Das Wunschziel der Rebellen ist der Sturz Gaddafis vor Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan, das heißt in der beginnenden Woche. Falls er noch länger aushält, kann er im Bunker den 42. Jahrestag seiner Revolution feiern.

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SZ vom 22.08.2011
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