Süddeutsche Zeitung

Landtagswahl in Thüringen:"Na, was hat er denn Böses gesagt?"

Lesezeit: 4 min

Auf der Autobahn, da herrscht der halbe Krieg, die Welt ist doch krank, und die Rentner werden im Stich gelassen - wie Bürger in Thüringen erklären, warum sie Björn Höcke und dessen AfD wählen wollen.

Von Paul Munzinger, Bad Salzungen/Eisenach

Als das Familienfest der AfD in Bad Salzungen um ein Uhr mittags beginnt, sitzen die ersten beiden Gäste schon seit einer halben Stunde unter dem weißen Pavillon. Es ist ein älteres Ehepaar. Vor dem Mann liegt eine Plastiktüte, die er bis oben mit AfD-Flyern und Wahlkampfbroschüren gefüllt hat. Erst präsentiert er stolz den Inhalt, dann nicht weniger stolz sein Alter, er ist 86. Nur seinen Namen will er nicht verraten: "Dann ruft mich am Ende noch Frau Merkel an!" Warum er hier ist? "Den jungen Mann will ich sehen", sagt er. "Und ich will, dass er mich auch sieht."

Bad Salzungen im Südwesten Thüringens, knapp drei Wochen sind es an diesem Dienstag noch bis zur Landtagswahl am 27. Oktober. 30 Jahre nach der friedlichen Revolution lockt die AfD Wähler mit dem Versprechen, die Wende zu "vollenden". An ein "Familienfest" erinnert hier in Bad Salzungen zwar auch dann nicht viel, als sich die AfD-blau bespannten Bierbänke nach und nach füllen; was Altersschnitt, Geschlechterverteilung und Zigarettenkonsum angeht, würde der Name eindeutig besser zu den beiden Gegendemos passen, die ebenfalls auf den Marktplatz drängen. Doch die AfD, das ist ebenso eindeutig, zieht an diesem Tag mehr Menschen an - zumindest dann, als der "junge Mann" spricht, also Björn Höcke.

Am 1. September hat die AfD in Brandenburg 23,5 Prozent der Stimmen geholt, in Sachsen sogar 27,5. In Thüringen darf sie den Umfragen zufolge mit einem ähnlichen Ergebnis rechnen. Und das mit Höcke an der Spitze - einem Politiker, den man mit gerichtlichem Segen als Faschisten bezeichnen darf, der immer wieder die Nähe zum Nazi-Jargon sucht, der die "Selbstabschaffung" des deutschen Volkes an die Wand malt und "Schutthalden der Moderne" beseitigen will. Einem Mann, den nach dem Angriff auf eine Synagoge in Halle, einen Tag später, Bayerns Innenminister als "geistigen Brandstifter" bezeichnen wird. Einem Mann, der sogar vielen in der eigenen Partei zu radikal ist. Spielt das für die AfD-Wähler keine Rolle?

Zumindest in Bad Salzungen: nein. Eine "ganz neue Gesellschaftsordnung" brauche es, fordert der 86-Jährige, seine Vorstellung, wie die denn aussehen sollte, ist eher vage. "Gar nicht so einfach", sagt er. "Dass jeder für den anderen da ist, würde ich mir wünschen. Auf der Autobahn, da herrscht der halbe Krieg."

Erst ein Musikduo namens "Evergreens", dann Höcke, mit seinen Evergreens

Einen "Systemwechsel" fordert auch ein Mann mit Schiebermütze und Adidas-Jacke. Er gibt preis, dass er 40 Jahre ist, bei Amazon in Bad Hersfeld arbeitet und sich den Tag freigenommen hat. "Die Welt ist doch krank", sagt er. Die Finanzwelt müsse reguliert, die Schule reformiert, Einwanderung gestoppt werden. "Die AfD ist auch nicht die Rettung", sagt er, aber sie sei die einzige Partei, die zumindest in Sachen Einwanderung eine klare Meinung vertrete. Höcke sei ein "guter, patenter Mann", dessen Aussagen "aus dem Zusammenhang gerissen" würden. Die Frage drängt sich auf: Stellt Höcke diese Zusammenhänge nicht selbst her, indem er etwa vom "Lebensraum" spricht - und dann schmunzelnd eine Kunstpause einlegt? "Höcke polarisiert", sagt der Mann, aber früher sei das normal gewesen. "Helmut Schmidt würde heute auch als Nazi beschimpft."

Für 15 Uhr ist die Rede des Spitzenkandidaten angekündigt, doch der verspätet sich. Das Duo Evergreens überbrückt die Zeit mit "Rosamunde" und Stücken von Andreas Gabalier. Wer sich in die Mitte des Marktplatzes stellt, kann mit dem rechten Ohr "Hulapalu" hören, und mit dem linken Jennifer Rostock, diese Band weht von der Gegendemo: "Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber." Um 15.57 Uhr kommt Höcke, man kann sagen: Auch er spielt seine Evergreens: Die Medien betrieben AfD-Bashing, politische Korrektheit liege "wie Mehltau" über dem Land, die "Kartellparteien" seien es, die in Wahrheit vom Verfassungsschutz beobachtet werden müssten. Sie lösten "unser Deutschland" auf "wie ein Stück Seife unter einem lauwarmen Wasserstrahl". Als Ministerpräsident werde er eine Abschiebeoffensive verfügen, die Flüge sollen vom "nicht ausgelasteten" Erfurter Flughafen starten. Dass keine andere Partei mit ihm koalieren will, sagt Höcke nicht.

Ein Anhänger setzt darauf, dass Höcke nach der Wahl von seinen Leuten gebremst werde

Es ist eine scharfe Rede, für die er aus dem Publikum viele Jawolls erntet. Aber es ist keine, mit denen er auf Schlagzeilen aus wäre. "Tipptopp" sei Höcke, sagt nach dem Ende eine junge Frau mit Kinderwagen, "der Mann sagt nichts als die Wahrheit". Auch der Mann mit der Adidas-Jacke ist wieder da. "Na, was hat er denn Böses gesagt?" Triumph liegt in seiner Stimme. Am Mittwoch, einen Tag später, wird sich Höcke auch zu Halle äußern. "Was sind das nur für Menschen, die anderen Menschen so etwas antun?!", schreibt er auf Twitter. Viele Nutzer werfen ihm Heuchelei vor.

Nach Höcke wollte sich eigentlich Susi Schreiber in Bad Salzungen präsentieren, doch weil der Spitzenkandidat zu spät kam, bleibt dafür keine Zeit. Am Abend holt sie es im Hinterzimmer einer Gaststätte in Eisenach nach. Acht Gästen, alles Männern jenseits der 60, trägt Schreiber ihren Lebenslauf vor, sie liest ihn vom Blatt ab: 41 Jahre alt, Mutter eines 16-jährigen Sohnes, Bauzeichnerin, seit 2018 AfD-Mitglied, Fraktionsvorsitzende im Stadtrat Eisenach, nun Direktkandidatin für den Wahlkreis Wartburgkreis II.

Dann spricht der Gast des Abends, Sebastian Wippel, der im Juni Chancen hatte, die OB-Wahl in Görlitz für die AfD zu gewinnen; erst in der Stichwahl unterlag er dem CDU-Kandidaten. Schreiber begrüßt ihn als "Sieger der Herzen". Später meldet sich ein Mann in der letzten Reihe. "Euer Programm ist super, aber ihr habt zwei Leute, die sich mit ihren Äußerungen bremsen sollten." Erstens Alexander Gauland, der Bundesvorsitzende, der den Nationalsozialismus als "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte bezeichnete; und Höcke, der das Holocaust-Mahnmal "Denkmal der Schande" nannte. "Das kann man denken", sagt der Mann, "aber nicht sagen."

Kurze Debatte, dann sind sich alle einig: Höcke habe nichts verharmlost, die Schande, von der er sprach, sei der Holocaust gewesen. Wie diese Deutung zu Höckes Forderung passt, eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" zu vollziehen? Die Frage stellt niemand.

Wie war der Einwurf des Zuhörers aus der letzten Reihe denn nun gemeint: als Kritik am Inhalt? Oder nur an der Form? Die Aussage sei "inakzeptabel", wiederholt der Mann, wenn man ihn darauf anspricht, er verrät auch gerne seinen Namen: Wolfgang Peter, 72 Jahre, Eisenacher, einst selbständig und CDU-Wähler, jetzt Rentner mit 640 Euro im Monat und AfD-Anhänger. "Wir Rentner werden im Stich gelassen", sagt er. Auch am 27. Oktober wird er AfD wählen, er hofft, dass Höcke Ministerpräsident wird. Trotz der Kritik, trotz Höckes Aussagen? "Ich nehme an", sagt Peter, "dass er dann von seinen Leuten ein bisschen gebremst wird."

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SZ vom 12.10.2019
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