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Kraft und die Hartz-IV-Debatte:Für immer arbeitslos

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Hunderttausende Erwerbslose sind kaum noch vermittelbar. Warum es schwierig ist, ihnen gemeinnützige Aufgaben zu übertragen: Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Thomas Öchsner

Senioren in Altenheimen Bücher vorlesen, in Sportvereinen helfen oder Straßen sauber halten - so stellt sich die stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, Hannelore Kraft, die Zukunft von Langzeitarbeitslosen vor, die keinen regulären Job mehr finden. Aber ist es überhaupt möglich, einen "gemeinwohlorientierten Arbeitsmarkt" aufzubauen, wie es die SPD-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen (NRW) formuliert? Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Thema.

Um welche Arbeitslosen geht es?

Knapp 6,7 Millionen Menschen sind derzeit auf Hartz IV angewiesen. Von diesen Hilfsbedürftigen sind etwa 1,8 Millionen Kinder, 4,9 Millionen sind erwerbsfähig. Nur ein Teil schafft aber den Sprung zurück in ein geregeltes Berufsleben. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) stellte kürzlich fest: "Viele Bedarfsgemeinschaften bleiben lange bedürftig." Das IAB fand heraus, dass seit Einführung der Hartz-Gesetze 2005 bis Ende 2007 1,5 Millionen Hartz-IV-Haushalte durchgehend auf die staatliche Unterstützung angewiesen waren. Kraft selbst spricht von 1,2 Millionen Langzeitarbeitslosen mit besonderen Handicaps.

Sieht die Bundesagentur für Arbeit das genauso wie die SPD-Politikerin?

Die Zahl der Langzeitarbeitslosen beziffert die BA offiziell mit 933.000. Viele von ihnen haben gleich mehrere Vermittlungshemmnisse, wie es in der BA heißt: Sie haben zum Beispiel Schulden, sind häufig krank, ohne Berufsausbildung. Oder sie sprechen kaum Deutsch. In einem BA-Papier aus dem Jahr 2006 ist von einem "arbeitsmarktfernen Personenkreis von wenigstens 400.000" die Rede. Gemeint sind damit Menschen, die noch nie oder seit mehr als sechs Jahren nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren.

Existiert bereits ein gemeinwohlorientierter Arbeitsmarkt?

Es gibt einen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt für gemeinnützige Jobs, die keine reguläre Beschäftigung verdrängen dürfen. Im Februar 2010 registrierte die BA hier 292.000 Stellen. 245.000 waren davon sogenannte Ein-Euro-Jobs, bei denen sich Hartz-IV-Bezieher ein schmales Entgelt hinzuverdienen dürfen. Die Ein-Euro-Jobs sind jedoch umstritten: Der Bundesrechnungshof stellte fest, dass Ein-Euro-Jobber häufig Aufgaben der Kommunen übernehmen - und zum Beispiel als Gärtner arbeiten statt in einer Essens-Tafel warme Mahlzeiten auszuteilen. Geförderte Billig-Arbeiter verdrängen dadurch reguläre Beschäftigungsverhältnisse.

Was will Hannelore Kraft ändern?

Auf dem öffentlich geförderten Arbeitsmarkt sind die Jobs befristet. Die SPD-Politikerin plädiert dafür, Langzeitarbeitslose dauerhaft gemeinnützig zu beschäftigen - auf freiwilliger Basis, finanziert von der öffentlichen Hand. "Es muss darum gehen, dass diejenigen, die arbeiten wollen, sich auch einbringen können", sagt die NRW-Spitzenkandidatin. Bei der Höhe der Bezahlung wollte sie sich nicht festlegen. Es solle aber mehr geben als bei den Ein-Euro-Jobs.

Ist der Vorschlag neu?

Nein, im Koalitionsvertrag der früheren schwarz-roten Koalition stand bereits 2005: "Personen, deren Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist, und die keine Arbeit auf dem regulären Arbeitsmarkt finden können, müssen eine Perspektive bekommen." Es sei deshalb zu prüfen, ob sich für diese Gruppe von Menschen Stellen zur Verfügung stellen lassen, "die eine sinnvolle und den individuellen Möglichkeiten entsprechende Entfaltung zulassen". Entscheidendes passiert ist seitdem jedoch nicht.

Wie lässt sich die Idee umsetzen?

Dies geht nur über regionale Bündnisse. Experten aus der jeweiligen Kommune, der BA, von Arbeitgebern und Gewerkschaften müssten festlegen, welche gemeinnützige Arbeit sinnvoll ist und keine Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt vernichtet. Wie schwierig das ist, zeigt der Vorschlag von Kraft, Langzeitarbeitslose in Altenheimen Bücher vorlesen zu lassen. Das tun bereits jetzt sogenannte "Alltagsbetreuer", die regulär beschäftigt sind.

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Quelle:
SZ vom 9. März 2010
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