Süddeutsche Zeitung

Demokratie:Radikalität darf man nicht den Extremisten überlassen

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"Radikal" - das waren mal jene, die das Wahlrecht für alle forderten und die Welt besser machen wollten. Der Begriff muss den Anti-Demokraten wieder entwunden werden.

Gastbeitrag von Jagoda Marinić

Es ist Zeit, sich einen Begriff zurückzuerobern. Und eine damit verbundene gesellschaftliche Haltung, die derzeit billig aus der Geschichte herauskopiert und deformiert wieder eingefügt wird. Radikalität. Radikal zu sein, darf man nicht Extremisten überlassen. Radikal zu sein, bedeutete in Europa einst, das Wahlrecht für alle zu fordern. Mehr Rechte für alle - und nicht weniger Rechte für "andere". Radikal waren jene, die progressiv eine Weltordnung erdachten, die nicht herrschte. Im Mittelpunkt dieses Denkens stand der Wunsch, die Leben der Menschen zu verbessern, und nicht der Versuch, Gruppen zu definieren, deren Leben sich getrost verschlechtern darf. Radikal zu denken, heißt einzusehen, wie menschengemacht Unrecht ist - und somit veränderbar.

Es ist nicht die Zeit, sich radikal zurückzulehnen. Das Wort "radikal" für jeden noch so kleinen Zweck zu missbrauchen. Tagtäglich wirbt jemand darum, Positionen wider die Menschenwürde argumentativ zu verhandeln. Als wäre einer aufs Gefühl zielenden Ansprache argumentativ beizukommen. Ich möchte heute das Gegenteil tun und erklären, weshalb ich in dieser obsessiven Auseinandersetzung mit antidemokratischen Positionen keinen Weg sehe, der gegenwärtigen Entsolidarisierung entgegenzutreten. Im Gegenteil.

Nonsens-Begriff "illiberale Demokratie"

Die einen nennen es Agenda-Setting. Die anderen Framing. Das Ergebnis ist derzeit eine Diskursdominanz von rechts, die konsequent Werte der liberalen Demokratie infrage stellt. Es wird nicht mehr über die Pflicht zur Einhaltung von Werten gesprochen, sondern darüber, an wie vielen Stellen sich Demokratie beschneiden ließe, ohne sie zu zerstören. Orbán hat hierfür den Nonsens-Begriff "illiberale Demokratie" erfunden. Er kommt aus dem Reich des manipulativen Wunschdenkens. Wer mit Politikern wie Orbán redet, redet - wenig überraschend - stets über antidemokratische Ansätze.

Dem nur zu widersprechen, heißt, deren Agenda voranzutreiben, statt Widerstand zu leisten.

Es liegt diesem Europa ein jahrzehntealter Wertekonsens zugrunde, der es handlungsfähig machte. Europa lässt sich diese Handlungsfähigkeit aber derzeit beschneiden. Jene, die Liberalität rückabwickeln möchten, sind in der öffentlichen Diskussion überproportional vertreten. Sie lähmen so gezielt die Handlungsfähigkeit. Auch Zerstörung wirkt anfangs wie Bewegung. Zu Beginn mag sich das stark anfühlen für einige. Es ist jedoch die Aufgabe von Politikern und Intellektuellen, klar zu verdeutlichen, wohin das Recht des Stärkeren letzten Endes führt.

Das gelingt nicht besser, indem man ihnen widerspricht. Es gelingt, indem man verdeutlicht, worüber dringlicher gesprochen werden muss. Der Linguist George Lakoff hat eine aufschlussreiche Antwort auf die Frage gegeben, weshalb Trump und seine Republikaner viele US-Amerikaner besser erreichen als Demokraten. Seine Analyse ist in Teilen auf Europa übertragbar. Es genügt eben nicht, wie Michelle Obama zu sagen: "When they go low, we go high!" (Frei übersetzt: "Wenn die anderen sich von ihrer schlechten Seite zeigen, zeigen wir unsere beste.")

Rechte Kräfte bestimmen die Richtung

Man muss selbst die Agenda setzen. Als Gegenrede ist kein neues Framing möglich. Gut ablesbar ist das an den Debatten um den Migrationspakt. Wo waren jene Stimmen, die fragten: Ist das alles, in Anbetracht der weltpolitischen Lage, human genug? Die rechten Kräfte Europas setzen derzeit die Pflöcke, innerhalb derer angeblich demokratische Debatten stattfinden. Wer sich vorwiegend in diese nationalen Debattenkleingärten hineinbegibt, gibt Europa bereits verloren.

Wer bietet, nicht nur argumentativ, sondern auch affektiv, die bessere Version von einem Zusammenleben? Sind Autoritarismus und Darwinismus wirklich einer Gesellschaft vorzuziehen, die sich um gleiche Rechte für alle bemüht? Lakoff meint, wir lebten in Zeiten, in der auch das Banalste wieder erklärt werden sollte: Wie sehr die öffentlichen Ressourcen den Reichtum der Einzelnen ermöglichen, zum Beispiel. Die Infrastruktur erarbeiteten die vielen, den Profit kassierten die wenigen. Aus diesem Grund bleibt die soziale Frage zentral. Und doch ist sie heute nicht mit Reden über den Klassenkampf zu beantworten. Der Klassenkampf ist gegen das Kapital verloren.

Der letzte radikale Kampf, den Menschen sich noch zutrauen können, ist der Kampf um gleiche Rechte. Deshalb muss man den Begriff Radikalität den antieuropäischen Extremisten enteignen. Radikal darf nicht die Haltung jener meinen, die eine Anti-Bürgerrechtsbewegung vorantreiben. Wenn die liberale Gesellschaft weiter vorankommen will, muss sie Platz finden für konstruktive Radikalität. Radikale Forderungen nach mehr Menschenrechten müssen als eigene Agenda vorangetrieben werden. Demokratie sollte das Lied werden, das überall gespielt wird, bis jeder weiß, welcher Sound ihm abhandenkäme.

Die soziale Frage ist nie die Gegenspielerin der Identitätspolitik

Francis Fukuyama war es, der grandios irrte, als er das Ende der Geschichte ausrief. Die Demokratie sei die letzte denkbare Staatsform. Doch die Autoritären sind zurück. Es gilt, das Reden mit ihnen nicht so lange zu betreiben, bis die eigene Gesellschaftsvision zerrieben ist. Fukuyama scheitert auch in seinem neuen Buch groß, wenn er meint, die Identitätspolitik stehe dem Kampf um eine gerechtere Welt im Weg. Da werden zwei Ideen gegeneinandergesetzt, die gerade im Zusammenspiel volle Kraft entfalten. Nur wenn ein Mensch sich bewusst wird, wo er steht, entwickelt er Kraft. Nur von diesem Ort aus findet er vielleicht den Weg, gegen die Teile des Systems zu kämpfen, die inhuman sind.

Die soziale Frage ist nie die Gegenspielerin der Identitätspolitik. Im Gegenteil, beide bedingen sich gegenseitig. Für die richtige Ansprache braucht es das Wissen über die Identität jener, die angesprochen werden. Menschen lassen sich nicht mobilisieren, wenn sie wissen, ein Kampf ist vergeblich. Doch der Kampf um Menschenrechte ist einer, für den man Hoffnung aufbringen kann. Diese Hoffnung wird derzeit in zähen Lagerdebatten zermürbt. Ich spreche von Menschen, weil nicht alle Menschen Bürger sind. Insbesondere aus Minderheiten nicht. Sie müssen es werden. Das ist die Utopie, die geblieben ist, um von einem Mehr für alle zu sprechen. Sie darf nicht nur als Gegenrede verteidigt werden. Das ist der letzte radikale Ansatz.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2018
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