Süddeutsche Zeitung

Jubiläum in Karlsruhe:Die Bremser aus Baden

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Andreas Kulick und Johann Justus Vasel sehen konservative Züge beim Verfassungsgericht. Das stimmt einerseits, andererseits aber auch nicht.

Von Wolfgang Janisch

Das Bundesverfassungsgericht wird zum 70. Geburtstag aus allen Blickwinkeln betrachtet, da liegt es nahe, das gern als fortschrittlich gelobte Gericht einmal von seiner konservativen Seite zu beleuchten. Diesen Versuch haben die Rechtswissenschaftler Andreas Kulick und Johann Justus Vasel unternommen, mit ihrem Essay "Das konservative Gericht". Augenfällig wird der Konservatismus nach Ansicht der Autoren etwa im Staatskirchenrecht. Mit dem weiten Spielraum, den das Gericht etwa katholischen Einrichtungen bei der Kündigung geschiedener Mitarbeiter einräumen wollte, habe das Gericht "die einseitige Privilegierung kirchlicher Interessen" perpetuiert. Ein kirchliches Selbstbestimmungsrecht, das auf Kosten des Grundrechtsschutzes gehe - dies sei kaum noch zeitgemäß. Ausdruck einer konservativen Staatstheorie sei zudem das strukturelle Übergewicht, das Karlsruhe der Regierung in der parlamentarischen Demokratie gewähre. Handfeste Auswirkungen habe dies während der Pandemie gehabt, die letztlich eine zu lange Stunde der Exekutive gewesen sei: Das Gericht habe der Regierung eine breite "Einschätzungsprärogative" gewährt, anstatt den Grundrechtsbeschränkungen mit einem dichteren Kontrollmaßstab entgegenzutreten.

"Konservierendes Amalgam"

Breiten Raum nimmt ein Kapitel zu Europa ein. Wenig überraschend finden die Autoren im Bestreben des Gerichts, deutsche Staatlichkeit gegen europäische Integration zu imprägnieren, besonders ausgeprägte konservative Elemente. "Auf nahezu allen Feldern fließt hier Konservierendes zu einem Amalgam zusammen: Staats- und Souveränitätsfixiertheit, Demokratie- und Identitätsschutz." Gleichzeitig gehe das Gericht hier aber mit innovativen dogmatischen Instrumenten zu Werke, namentlich mit dem sehr weit gefassten "Grundrecht auf Demokratie", ein Türöffner für Europaklagen. Sie nennen es "Innovation zum Zwecke der Konservation".

Das Beispiel zeigt freilich, dass der Erkenntnisgewinn aus dem Fokus auf das konservative Gericht überschaubar bleibt. Gewiss ist die Karlsruher Europa-Rechtsprechung konservativ. Aber ob darin ein - noch dazu kritikwürdiges - Bremsen des voranschreitenden Integrationsprozesses zu sehen ist, hängt letztlich von einer Prämisse ab, die nicht jeder Autor gleich formulieren wird. Nämlich vom Maß der angestrebten Integrationstiefe. Wer am Horizont den europäischen Bundesstaat sieht, der wird bereits ausbleibende Beschleunigung als Bremsmanöver empfinden. Wichtig an dem Essay bleibt aber die Erkenntnis, dass eben nicht nur spektakuläre Innovation wie beim Klimaschutzbeschluss die Karlsruher Rechtsprechung kennzeichnet. Die Autoren zitieren den großen Rechtsgelehrten Konrad Hesse: Eine Verfassung müsse "Starrheit und Beweglichkeit" aufweisen.

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SZ vom 27.09.2021
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