Süddeutsche Zeitung

Joe Biden:Ein brisanter Vorwurf

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Von Alan Cassidy, Washington

An einem Sommerabend des Jahres 1993 rief in der CNN-Talkshow von Larry King eine Zuschauerin aus dem kalifornischen San Luis Obispo an. Thema der Sendung waren die hässlichen Seiten des Politbetriebs in Washington, die Intrigen, Fallstricke und Abgründe der US-Hauptstadt.

Die Frau in der Leitung nannte ihren Namen nicht, aber sie erzählte von ihrer Tochter, die gerade ihre Stelle als Mitarbeiterin eines "prominenten Senators" verlassen habe, nachdem sie dort "Probleme" gehabt hätte, mit denen sie nicht durchgedrungen sei. Nun, fast 27 Jahre später, ist ein Videoausschnitt dieses Anrufs wieder aufgetaucht - inmitten des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs.

Die heute 56-jährige Juristin Tara Reade sagt, bei dem prominenten Senator von damals handle es sich um Joe Biden, den heutigen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, und die Anruferin bei Larry King sei ihre inzwischen verstorbene Mutter, die von den Erlebnissen ihrer Tochter erzählte.

Reade wirft Biden vor, sie 1993 sexuell angegriffen zu haben, als sie für neun Monate in seinem Senatsbüro arbeitete. Nach ihrer Darstellung wurde sie damals von ihrer Vorgesetzten gebeten, Biden seine Sporttasche zu bringen. Als sie den Senator im Untergeschoss des Kapitols antraf, habe er sie gegen eine Wand gedrückt und sie geküsst. Danach habe er ihr unter den Rock gegriffen und sei mit den Fingern in sie eingedrungen. Als sie sich gewehrt habe, habe er ihr gesagt: "Du bist ein Nichts für mich."

Reade hatte den Vorwurf bereits vergangenen Monat beim Podcast der linken Aktivistin und Filmproduzentin Katie Halper erhoben. Es dauerte allerdings mehrere Wochen, bis auch führende US-Medien darüber berichteten. Reade sagt, sie habe damals ihre Mutter, ihren Bruder sowie zwei Freunde über den Vorfall informiert und auch eine Beschwerde beim Senat eingereicht.

Die New York Times und andere Medien konnten eine solche Beschwerde jedoch nicht ausfindig machen, und Interviews mit Reades Freunden sowie mit ihrem Bruder ließen nach Berichten der Times, der Nachrichtenagentur AP oder der Washington Post Fragen dazu offen, wann Reade sie über welche Vorfälle informiert hatte.

Ex-Mitarbeiterin Bidens verteidigt den damaligen Senator

Biden hat die Anschuldigungen über eine Sprecherin zurückgewiesen. Auch mehrere langjährige Mitarbeiter von Biden bestreiten Reades Darstellung. Sie könne sich nicht daran erinnern, je von diesem Vorwurf gehört zu haben, sagte Marianne Baker, die 18 Jahre lang als Bidens Büroleiterin tätig war. "So etwas hätte sich bei mir tief eingebrannt, als Frau wie auch als Managerin."

Melissa Lefko, die Anfang der 1990er-Jahre in Bidens Büro die gleiche Stelle besetzte wie Reade, sagte dem Radiosender NPR: "Die Kultur im Büro war in jeder Hinsicht professionell, es gab Frauen in Führungspositionen, was damals nicht die Norm war." Man habe unter den Mitarbeitern der Abgeordneten und Senatoren gewusst, welche die guten Typen waren und welche die schlechten. "Und Biden war ein guter Typ."

Der 77-jährige frühere Vizepräsident war schon vor einem Jahr wegen seines Umgangs mit Frauen in die Schlagzeilen geraten. Damals berichteten acht Frauen über frühere Begegnungen mit Biden, die sie als unangemessen oder aufdringlich empfunden hatten. Es ging dabei unter anderem darum, dass Biden Frauen umarmt, an ihrem Haar gerochen oder auf den Hinterkopf geküsst hatte. Eine dieser Frauen war Tara Reade. Weder sie noch eine der anderen Frauen beschuldigte Biden jedoch damals einer sexuellen Belästigung oder gar eines Übergriffs.

Medien, die nun der neuen Beschuldigung nachgingen, erhoben Zweifel an Reades Glaubwürdigkeit und auch an ihrer Motivation. Sie wiesen darauf hin, dass Reade ihre Darstellung mehrfach geändert hat, und stießen auf einen inzwischen gelöschten Beitrag, den Reade 2018 bei der Plattform Medium verfasst hatte. Darin war sie voll des Lobes für den russischen Präsidenten Wladimir Putin, was sie später wieder zurücknahm. In den demokratischen Vorwahlen hatte Reade zudem diverse Gegner von Biden unterstützt.

Unabhängig davon, ob sich der Vorwurf gegen Biden erhärtet oder nicht: Politisch ist er für den Präsidentschaftskandidaten schon jetzt eine Belastung. In Zeiten der Me-Too-Bewerung müssen sich die Demokraten die Frage gefallen lassen, warum sie in Fällen wie jenem des Bundesrichters Brett Kavanaugh nach Aufklärung rufen, aber zu der Beschuldigung gegen Biden kaum etwas sagen. In den sozialen Medien ist eine Kampagne im Gang, in der Biden aufgefordert wird, sich aus dem Rennen um die Präsidentschaft zurückzuziehen.

In ihrer Kritik an Biden treffen sich dabei Stimmen von ganz links und ganz rechts. Dazu gehören Anhänger des Senators Bernie Sanders, die den Demokraten und den Leitmedien vorwerfen, den Vorwurf gegen Biden totzuschweigen, um seine Wahlchancen gegen Donald Trump nicht zu gefährden, dem seinerseits mehr als ein Dutzend Frauen sexuelle Übergriffe vorgeworfen haben. Und dazu gehört Trumps Sohn Donald Trump junior, der bei Twitter ätzte, dass sich Biden in seinem Haus nicht vor dem Coronavirus verstecke - sondern vor Tara Reade.

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SZ vom 28.04.2020
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