Süddeutsche Zeitung

Japan:Mauern vor dem Meer

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Acht Jahre nach dem Tsunami läuft der Wiederaufbau an Japans Sanriku-Küste schleppend. Es gibt wenig Arbeitsplätze und Baumaterrial ist teuer geworden. Kann Tourismus der Region helfen?

Von Christoph Neidhart, Miyako

Riyota Suzuki setzt sich eine Spielzeugkrone auf wie ein Clown. Auf seinem T-Shirt steht "Squid-Prince", Tintenfisch-Prinz. "Zum Jahrestag am 11. März kommen die Medien her, die übrige Zeit interessiert sich keiner für Miyako", klagt der Fischunternehmer mit bitterem Clowngrinsen. Der Tsunami am 11. März 2011 erreichte in Miyako in der Präfektur Iwate 38 Meter Höhe. 420 Menschen kamen um, 92 werden noch vermisst. Die Fluten zerstörten 4005 Häuser und 900 Fischerboote, fast die ganze Flotte.

Auch "Kyowa", Suzukis Familienbetrieb, verlor ein Fabrikgebäude. "Aber von unseren Angestellten ist niemand umgekommen. Die Leute sagten deshalb, ihr seid ja ok. Aber ich fühlte mich, als hätte es mich selber weggespült." Plötzlich hatte der 37-Jährige enorme Schulden. Dennoch nahm er Kredite auf - "Beträge, die ich mir zuvor nicht vorstellen konnte" -, um neu anzufangen. Als das neue Geschäft stockte und ihm niemand half, erfand er sich als "Tintenfisch-Prinz". "Seither nehmen die Medien uns wahr." Als "Prinz" hat er inzwischen in Tokio, New York, Sydney, Taipeh und Bangkok für "Ika-Somen" geworben, in Streifen geschnittenen rohen Tintenfisch in einer Sauce. In Suzukis Fischfabrik werden die Tintenfische von Hand gesäubert, von einer Maschine in Streifen geschnitten, dann in Pappbecher verpackt und gefroren.

Wälle sollen künftige Tsunamis aufhalten. Manche fühlen sich aber nun wie im Gefängnis

Wenn der jüngste von drei Brüdern, der das Geschäft übernehmen musste, weil die anderen nicht wollten, den Tintenfisch-Clown gibt, tut er das nicht nur für seine 50 Mitarbeiter. Sondern auch für Miyako und die Sanriku-Küste, die noch immer um den Wiederaufbau kämpft. Viele zogen weg, es gibt kaum Stellen. "Was ist eine Fischerstadt ohne Fischer und Fischverarbeitung", seufzt Suzuki. "Ich möchte den Menschen einen Grund geben zu bleiben." Die Folgen des Tsunami sind nicht seine einzigen Probleme. Obwohl es zu wenig Stellen gibt, hat er Mühe, Leute zu finden: "Die Fischerei gilt in Japan als uncool." Höhere Löhne kann er nicht bieten, die Margen seien knapp. "Die Fänge sind seit dem Tsunami schlecht, seit 2016 noch schlechter." Die Preise haben sich verdreifacht. "Die Japaner fischen wie im Goldrausch, sie holen alles aus dem Meer." Im Handel sei der Fisch zu billig. "Dennoch essen die Leute von Miyako kaum lokalen Fisch, sie gehen zu McDonald's oder Aeon", einem Einkaufszentrum. "Dort kommt der Lachs aus Norwegen oder Chile statt aus Iwate. Sollten wir nicht stolz sein auf unsere Produkte?" Er hoffe, der Tourismus belebe die Nachfrage.

Darauf hofft auch Ichiro Nakamura, der Chef von Sanriku-Railway, der Bahnlinie entlang der Küste, deren letztes Teilstück erst im März wieder in Betrieb genommen wurde. Der Tsunami hatte die Trasse, Brücken und Bahnhöfe mitgerissen. Bisher war die Linie von Japan Rail (JR) betrieben worden, den früheren Staatsbahnen. Einen Teil der Linie hat JR als Bustrasse restauriert. Als Eisenbahn sei sie nicht mehr zu finanzieren: Zug fahren fast nur noch Schüler und alte Leute. Aber die Menschen im Norden wollten ihre Bahn zurück. Also restaurierte JR die Linie, um sie dann zu privatisieren. Sie gehört jetzt der Präfektur und den Gemeinden. "Unsere finanzielle Situation ist sehr schwierig", sagt Nakamura. Deshalb fahren die Züge im Einfraubetrieb, wie die Bahn betont. Die Lokomotivführerin verkauft und kontrolliert auch die Fahrkarten. Frauen, die Züge steuern, sind in Japan noch eine Attraktion.

Die Sanriku-Küste ist schroff, aber grün, das Wasser klar. Die Berge fallen in den Pazifik, die Täler sind eng - deshalb stieg die Flut so hoch -, die kleinen Buchten waren dicht verbaut. Das Brackwasser bot Meeresvögeln, Muscheln und Fischen ein Habitat. Den Touristen bietet sie 300 Kilometer Idylle. Aber seit 2011 werden die Buchten mit Ufermauern verrammelt. Damit verschwinden die Brackwässer - und die naturgeschützte Fauna, die Touristenattraktion. Man fühle sich, als sei man im Gefängnis, klagen die Menschen in Yamada, wo die Sicht aufs Meer von einer zehn Meter hohen nackten Betonwand verstellt wird. In anderen Städtchen wurde der Boden der ganzen Bucht angehoben.

Im Schock nach dem Tsunami, in dem fast 18 000 Menschen umkamen, sprachen sich viele Leute für Seewälle aus, erzählt Akiko Iwasaki, die am Nebama-Strand weiter südlich ein Hotel betreibt. Das habe sich jedoch bald geändert. Die Fischer leben mit dem Meer, sie wollen es sehen. Iwasaki selber wurde vom Tsunami auf dem Parkplatz ihres Hotels erfasst, sie blieb zwischen einem Bus und einer Hütte hängen. Von dort hangelte sie sich einen Hang hoch. Dennoch lehnt sie den Wall ab, der in der Nachbarbucht gebaut wird. "Aber weil Leute, die Angehörige verloren haben, ihn wollten, haben wir uns zurückgehalten." Die Küste wurde immer wieder von Tsunamis heimgesucht, zuletzt 1896 und 1932. "Das gehört zu unserer Geschichte." Wichtiger als Mauern sei es, "das Wissen unserer Vorfahren an die nächste Generation weiterzugeben: Bei Alarm muss jeder sofort in die Höhe rennen."

Iwate hat lange vor der Katastrophe begonnen, in den Schulen Tsunami-Alarm zu üben. Mit Erfolg. Anders als in der Nachbarpräfektur im Süden kamen hier wenige Schulkinder um. Um das Wissen, wie man sich verhält, weiterzugeben, hat sich in der Oberschule von Otsuchi ein "Wiederaufbau-Klub" gebildet. Die Schülerinnen, die die Katastrophe als Kinder erlebten und im Ausnahmezustand aufgewachsen sind, bereiten Hilfsaktionen für künftige Katastrophen vor und dokumentieren den Wiederaufbau an 180 Orten fotografisch.

Das benachbarte Kirikiri, das als störrisches Dorf in die japanische Literatur eingegangen ist, wehrte sich ebenfalls gegen einen Wall. Trotzdem wird er gebaut. "Nicht für uns, für die Zenekon", sagte ein Bürger von Kirikiri der Süddeutschen Zeitung. Zenekon nennt man die Generalunternehmer, die eng mit der Politik verbandelt sind. Die Regierung in Tokio hat bereits zehn Milliarden Euro in Schutzwälle gesteckt. "Die Hälfte davon blieb in Tokio", so der Mann in Kirikiri, "ein Viertel ging in die Präfekturhauptstädte. Wir haben von der Mauerbauerei gar nichts. Nicht einmal Stellen. Die Arbeiter und Lkw-Fahrer werden von den Zenekon hergeschickt." Tsunamiwälle gab es schon vor 2011, die Flut spülte sie einfach weg. Die neuen "bieten den bestmöglichen Schutz", sagte Premier Shinzo Abe. Viele Bewohner der Sanriku-Küste glauben das nicht, zumal der Staat nur ihren Bau finanziert. Den teuren Unterhalt, damit die Wälle einem nächsten Mega-Tsunami standhalten, muss die Präfektur übernehmen. Die hat bereits gesagt, dass ihr dafür das Geld fehle.

In Kamaishi, dem Zentrum der Region, versucht Vizebürgermeister Hideki Yamazaki erst gar nicht, den Mauerbau als Sicherheitsgarantie zu verteidigen. Die Wälle hielten kleinere Tsunamis auf, meint er. "Bei großen verschaffen sie den Menschen mehr Zeit zur Flucht." Auch sonst grenzt er sich gegen Tokio ab. Abe nennt die Olympischen Spiele nächsten Sommer "Spiele der Regeneration". In Wirklichkeit behindert Olympia den Wiederaufbau. Für den Stadienbau sind Baumaschinen und Leute abgezogen worden. "Und das Baumaterial ist 20 Prozent teurer geworden." In Kamaishi wohnen acht Jahre nach der Katastrophe noch immer etwa 150 Familien in Provisorien. Allerdings baute sich die frühere Stahlstadt selbst auch ein umstrittenes Stadion für 40 Millionen Euro, im Herbst beherbergt es zwei Spiele der Rugby-WM.

"Damit Kamaishi auf die Weltkarte kommt." Ryota Suzuki hofft, bei Fidschi-Uruguay und Namibia-Kanada viel Fish-n-Chips zu verkaufen, Nakamura hofft auf volle Züge, die Hotels werden ein paar Nächte ausgelastet sein. Aber dann kommt der harsche Winter, und die Sanriku-Küste wird wieder vergessen. Zurück bleiben Rechnungen für das Stadion und der schleppende Wiederaufbau. Aber auch tapfere Menschen, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz für ihre Küste einsetzen.

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Quelle:
SZ vom 12.08.2019
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