Süddeutsche Zeitung

"Islamischer Staat":Chronist des Terrors

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Unter dem Pseudonym "Mosul Eye" hat Omar Mohammed über das Leben in Mossul und die Herrschaft des "Islamischen Staats" geschrieben. Nun hat er das Geheimnis seiner Identität gelüftet.

Von Moritz Baumstieger

Als er irgendwann nicht mehr ertragen konnte, was er täglich auf den Straßen sah, rasierte er sich den Bart ab und fuhr an den Fluss. Er drehte Musik auf, steckte sich eine Zigarette an und trank ein Glas Tee - was in fast jeder anderen Stadt ein unschuldiges Picknick gewesen wäre, war hier eine Art Selbstmordversuch. Dass sie ihn für dieses angeblich unislamische Verhalten verhaften, foltern und töten würden, dessen war er sich sicher - er hatte die Dschihadisten des "Islamischen Staates" unzählige Male dabei beobachtet, wie sie ihre perverse Rechtsordnung durchsetzten. Doch nichts passierte, und so machte er weiter.

Der junge Mann, der Reportern der Agentur AP nun diese Geschichte erzählte, heißt Omar Mohammed. Die vergangenen Jahre versteckte sich der 31-Jährige jedoch hinter dem Pseudonym Mosul Eye. Mohammed war während der Herrschaft des IS zeitweise die einzige Quelle, die aus der nordirakischen Stadt Mossul berichtete - auf seinem Blog, auf Facebook und Twitter. Hundertausende lasen, was Mohammed hinter heruntergelassenen Jalousien unter Lebensgefahr tippte. Für Medien weltweit - auch die Süddeutsche Zeitung - war er ein Ansprechpartner, der manchmal über Chatprogramme Interviews gab.

Eine Woche, nachdem die Dschihadisten im Juni 2014 Mossul überrannt hatten, wurde aus dem frisch graduierten Historiker der Chronist der grausamen Gegenwart. Fortan strich er tagsüber durch die Straßen, sprach mit Basarhändlern, trank Tee mit Klinikpersonal. Er versuchte, unauffällig Informationen bei einem alten Freund zu sammeln, der zu "einem der Monster des IS" geworden war, er zwang sich, bei öffentlichen Hinrichtungen hinzusehen. Denn: "Ich werde nur die Fakten weitergeben, die ich selbst gesehen habe", hatte Mohammed in einem seiner ersten Blogeinträge versprochen. Und während auch im Westen noch viele auf die Inszenierungen des IS hereinfielen und gebannt dessen grausame Videos ansahen, dekonstruierte Mohammed durch seine Arbeit die Propaganda des Pseudo-Kalifats.

Als irakische Armee und die internationale Militärkoalition seine Heimatstadt in Trümmer bombten und letztlich vom IS befreiten, kritisierte Mohammed das Vorgehen des Militärs scharf. Er selbst hatte die Stadt da schon länger verlassen - im Gepäck eine Festplatte mit all den Informationen, die er über den IS gesammelt hatte. Nun war er es, der sich über Chats mit Nachrichten aus Mossul versorgen ließ. Per Whatsapp erfuhr er so vom Tod seines Bruders, den ein Schrapnell getroffen hatte.

Heute hat Omar Mohammed Asyl in Europa gefunden, von wo er eine Kampagne zum Wiederaufbau seiner alten Uni-Bibliothek betreibt. Dass niemand, nicht einmal die Familie, von seiner zweiten Identität wusste, belastete ihn - zumindest bis Donnerstag. "Ich habe meiner Mutter endlich erzählt, dass ihr Omar Mosul Eye ist", schrieb er dann auf Twitter. "Sie weinte und sagte: Ich wusste, dass irgendwas mit dir los ist."

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Quelle:
SZ vom 08.12.2017
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