Süddeutsche Zeitung

IS-Anhänger und die Justiz:Tickende Zeitbombe

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Wie Schweden die Lage in den Camps entschärfen will.

Von Moritz Baumstieger

Als die Türkei im Herbst 2019 ihre "Operation Friedensquelle" genannte Offensive gegen die kurdische Selbstverwaltungszone in Nordostsyrien startete, wurden nicht nur die Milizen dort nervös. Auch in Europa verfolgten Politiker und Sicherheitsbeamte die Geschehnisse mit Sorge. Im Chaos der Kampfhandlungen, so die Befürchtung, könnte in den Kurdengebieten inhaftierten IS-Anhängern die Flucht gelingen - und dann die Weiterreise nach Europa.

Und tatsächlich: Als türkische Truppen das Lager Ain Issa erreichten, verschwanden mehr als 750 Insassen mit IS-Verbindungen, unter ihnen vier Frauen aus Deutschland. In den anderen Camps konnten Massenfluchten verhindert werden, etwa in al-Hol mit 11 000 Ausländern. Doch noch heute nennt ein offizieller Vertreter der Kurden das Lager eine "tickende Zeitbombe", in dem teils Frauen die Regeln vorgeben, die streng nach der IS-Ideologie leben. Immer wieder kommt es zu Ausbruchsversuchen, so gelang es IS-Anhängerinnen, sich in leeren Wassertonnen rausschmuggeln zu lassen.

Als besser gilt die Sicherheitslage im Camp al-Roj im äußersten Nordosten Syriens, wohin die Kurden seit dem Sommer immer mehr der deutschen IS-Frauen und ihrer Kinder verlegt haben. Weil die Wärter in der Lage sind, hier ein strenges Handyverbot durchzusetzen, dringen nur wenige Informationen nach außen.

Ähnlich schwer einzuschätzen wie die Lebensbedingungen in den Lagern sind die Pläne der Kurden für IS-Mitglieder aus Europa. Einerseits ist deren Bewachung finanziell und personell eine Bürde, weshalb Vertreter der Kurden an westliche Staaten appellieren, ihre Bürger zurückzuholen. Andererseits, so sagten es Experten der SZ, seien die Gefangenen "eine Art Lebensversicherung für die Selbstverwaltung". Solange die Kurden als Bewacher früherer IS-Mitglieder gebraucht würden, könnten sie sich der Unterstützung der USA und Russlands gegen weitere türkische Angriffe einigermaßen sicher sein.

Schweden hat zugestimmt, dass seine Staatsbürger im Kurdengebiet vor Gericht gestellt werden

Deshalb ließ Ende September eine Nachricht aufhorchen. Die kurdische Selbstverwaltung, meldete der NDR, verweigerte die Rückführung von 25 deutschen Frauen und Kindern. Volljährigen IS-Anhängern solle nun an Ort und Stelle der Prozess gemacht werden. Während die Kurden einen Paradigmenwechsel in Bezug auf ausländische Gefangene dementierten, laufen in Nordostsyrien tatsächlich die ersten Vorbereitungen für Prozesse gegen europäische Dschihadisten. Schweden hat zugestimmt, dass seine Staatsbürger dort vor Gericht gestellt werden, und schickt zu den für Januar geplanten Prozessen Beobachter. So können die Kurden der lokalen Bevölkerung zeigen, dass die begangenen Verbrechen verurteilt werden, absitzen sollen die Täter ihre Strafe dann im Heimatland, Todesstrafen werden im Gebiet der Selbstverwaltung nicht verhängt.

Solch ein Vorgehen wäre laut kurdischen Offiziellen auch für deutsche IS-Anhänger möglich. Gegenüber der EU-Abgeordneten Hannah Neumann gaben sich deren Vertreter im November in al-Hol pragmatisch. Die Bundesregierung könne Anwälte für deutsche Angeklagte schicken, an Verfahren könnten sogar deutsche Richter beteiligt werden. "Im Endeffekt war ihr Plädoyer: Egal was - aber tut endlich was!" Da eine Kooperation mit lokalen Gerichten aber einer Anerkennung der kurdischen Selbstverwaltung nahe käme, würde dieses Modell Deutschlands Beziehungen zur Türkei massiv belasten.

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