Süddeutsche Zeitung

Interview:"Der Sozialstaat muss menschlicher werden"

Lesezeit: 12 min

Bundespräsident Johannes Rau über Gerechtigkeit im Reformprozess, über Deutsche und Juden sowie über den Parteien-Verdruss.

Ingo Kahle (RBB) und Heribert Prantl

SZ: Herr Bundespräsident, Bismarck hat den Sozialstaat auch deswegen begründet, um die Sozialdemokratie zum Verschwinden zu bringen. Das hat bekanntlich nicht geklappt. Bringt nun die Sozialdemokratie den Sozialstaat zum Verschwinden? Rau: Ich glaube nicht. Ich sehe ein anderes Problem: Die Menschen sind durch die rasante Globalisierung verunsichert, und die Politik versucht, einen neuen Standort zu finden - sie bringt diesen Standort aber nicht in Bezug zu ihrem Ausgangspunkt, also zu ihren Aussagen vor den letzten Bundestagswahlen. Der Erklärungsbedarf der Menschen wird also nicht befriedigt.

SZ: Die Reformpolitik ist konkret, wo es um Belastungen für die kleinen Leute geht, und unkonkret bei den Belastungen für die Vermögenden und die Wirtschaft . Beeinträchtigt dieses Ungleichgewicht die Akzeptanz von Reformen? Rau: Die Gefahr besteht. Wenn man freilich immer ritualisiert sagt: "Und nun noch was gegen die Reichen!", dann hat man damit nicht automatisch mehr Gerechtigkeit geschaffen. Es muss aber in der Tat geprüft werden, ob der Thermostat der Gerechtigkeit richtig eingestellt ist oder ob da nur noch ein Thermometer hängt, das nur die Temperatur registriert, aber sie nicht ändert. Und das wird eine lange gesellschaftliche Diskussion werden, da wünsche ich mir die Einmischung aller - der Kirchen, der Gewerkschaften, der Zivilgesellschaft. Da wünsche ich mir auch eine stärkere und härtere Auseinandersetzung in den Parteien und zwischen den Parteien.

SZ: Wie ist der Thermostat momentan eingestellt, und welche soziale Temperatur lesen Sie auf dem Thermometer ab? Rau: Die Diskussion leidet darunter, dass nicht mehr deutlich wird, was jetzt aktuell zu geschehen hat und welche Planungshorizonte es langfristig gibt. Ein Beispiel: Als normaler Bürger können Sie nicht verstehen, dass über eine Arbeitszeitverlängerung auf 67 gerade in dem Augenblick geredet wird, in dem in der Mehrheit der Unternehmen nur noch unter 50-Jährige beschäftigt sind.

SZ: Das hat Norbert Blüm zu verantworten. Rau: Wer auch immer - da sind Politiker aller Parteien nicht schuldlos, und Ähnliches gilt bei der Gesundheitsreform. Ich habe vor kurzem eine Arztrechnung bekommen, und darunter stand: 3,5-facher Satz wegen Polymorbidität älterer Patienten. Wenn wir eine Gebührenordnung hinnehmen, bei der es einem Arzt erlaubt ist, einem 72-Jährigen auf der Rechnung zu bestätigen, er ist polymorbid, dann stimmt was nicht mehr, nicht nur mit unserer Sprache, sondern auch mit unserem Denken.

SZ: Brauchen wir in einer dynamischen Gesellschaft eine "gerechtfertigte Ungleichheit", wie der verstorbene US-Sozialphilosoph John Rawls meinte? Rau:Es gibt in der Tat eine gerechte Ungleichheit. Aber das heißt nicht, dass Ungleichheit immer gerecht ist. Auch wenn wir jetzt viel von Chancengerechtigkeit reden, brauchen wir weiterhin Verteilungsgerechtigkeit - die kommt ja nicht automatisch. Der Streit um diese Gerechtigkeit muss noch schärfer geführt werden. Die Pisa-Studie macht deutlich, dass spätere Korrekturen kaum möglich sind.

SZ: Wir geben sechsmal mehr Geld dafür aus, dass Menschen nicht in Armut fallen, als dafür, dass sie aus der Armut kommen - sprich für Bildung. Ist die Bildungspolitik immer noch ein Stiefkind? Rau: Ja. Wir haben 16 verschiedene Bildungspolitiken und versuchen immer wieder, überwölbende Dächer zu bauen, anstatt endlich die Fundamente zu verändern. Als ich aus dem Flächenland Nordrhein-Westfalen mit drei schulpflichtigen Kindern in den Stadtstaat Berlin umgezogen bin, habe ich selber erlebt, was das bedeutet. Natürlich brauchen wir keine Gleichförmigkeit von Altötting bis Flensburg, aber wir müssen uns der Bildungspolitik viel stärker zuwenden. Wir geben für Bildung weniger aus, als wir uns leisten können.

SZ: Mit der Reformdebatte einher geht eine Verfassungsdebatte; diese tut so, als seien auch das Grundgesetz und seine Mechanismen schuld am Reformstau. Brauchen wir ein Grundrecht auf ungestörte Investitionsübung? Rau: Nein. Man sollte auch nicht jeden Wahlkampf zu einem Wettbewerb machen, wer die niedrigsten Steuern verspricht. Wenn Steuersenkungen das eigentliche Ziel von Politik werden, dann darf man sich nicht wundern, wenn der Staat anschließend kein Geld für Daseinsvorsorge hat. Und solange es als schick gilt, möglichst kreativ Steuern zu vermeiden, wie das inzwischen heißt, darf man sich nicht wundern, wenn die Leute auch noch diejenigen bewundern, die ins Ausland ziehen und hier gar keine Steuern mehr bezahlen. Wir müssen wieder zu einem leistungsfähigen Staat werden. Der "schlanke Staat" darf kein ärmlicher Staat sein.

SZ: Was ist unter den jetzigen Bedingungen noch Daseinsvorsorge? Rau: Dazu gehört unter anderem ein leistungsfähiges Schul- und Hochschulwesen, dazu gehört das kulturelle Angebot der Gemeinden und der Länder und noch vieles mehr.

SZ: Vielleicht haben die Industrieverbände gar nicht so Unrecht, wenn sie sagen, die Starken müssen gestärkt werden, um die Schwachen besser ziehen zu können. Rau: Das ist auch wahr, aber es ist eben nicht die ganze Wahrheit.

SZ: Oder die Schwachen müssen noch erleichtert werden, damit sie nicht so schwer zu ziehen sind. Rau: Das wäre nicht die richtige Linie. Es macht mich wütend, wenn Unternehmen auf Pressekonferenzen das beste Ergebnis der Firmengeschichte bekannt geben - und gleichzeitig weitere Entlassungen. Diesem Automatismus - Börsenkurse rauf, Arbeitsplätze runter - muss die Wirtschaftpolitik entgegenwirken. Die Wirtschaft ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Wirtschaft.

SZ: Andere Länder sind uns in den Reformen voraus - Dänemark, Großbritannien -, dort ist die Arbeitslosigkeit geringer. Leuchtende Beispiele? Rau: Nein, das ist so eine Festtagsnummer, die wird seit 40 Jahren gespielt. Vor 20 Jahren hat Klaus von Dohnanyi das Buch geschrieben: Beispiel Japan. Dann war es Dänemark, vor fünf Jahren waren es die Niederlande, jetzt ist es Großbritannien. Wir müssen unser Haus in Ordnung halten. Wir können unser Haus mit anderen Häusern vergleichen, aber es gibt nicht die wirtschaftspolitische Formel, nach der sich alle ausrichten können. Die Politik hat die Pflicht, günstige Rahmenbedingungen zu schaffen - sie muss dabei aber auch bescheiden sein und darf keine falschen Erwartungen wecken. Die Politik kann keine Arbeitsplätze schaffen, das müssen schon die Unternehmen tun.

SZ: Ist das Wort bescheiden auch dann richtig, wenn es um den Sozialstaat geht? Muss der bescheidener werden? Rau: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, er muss menschlicher, kleinräumiger werden, mehr Zeit für Menschen haben. Nehmen Sie das Beispiel der Pflegeversicherung: Die ist in einem Maße bürokratisiert worden, dass es bald mehr Kontrolle als Pflege gibt.

SZ: Müssen wir uns auf magere Jahre einstellen? Rau: Die nächsten Jahre werden schwierig werden. Aber wir sind nicht ärmlich dran. Wir sind immer noch die Exportnation Nummer eins, und wir haben ein Selbstwertgefühl, als wären wir zwei Plätze hinter Bulgarien. Das geht so nicht. Eine große US-Unternehmensberatung hat jetzt gemeldet, dass Deutschland der attraktivste Standort für Auslandsinvestitionen in der EU ist. Darüber redet niemand.

SZ:Als erster Bundespräsident haben Sie, am 16. Februar 2000, in der Knesset, dem israelischen Parlament, gesprochen. Es war, wie Sie sagten, ein Höhepunkt Ihrer Amtszeit. Was haben Sie bei den Äußerungen des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann und des Brigadegenerals Reinhard Günzel empfunden? Rau: Ich bin erst einmal erschrocken. Antisemitismus und Rassismus gibt es zwar überall. Aber die Hemmschwelle muss bei uns eine andere sein als in anderen Ländern. Wir Deutschen wissen ja, was daraus werden kann, wenn man nicht behutsam mit der Sprache ist und nicht genau und menschlich im Denken. Da habe ich bei vielen Gelegenheiten immer wieder Defizite festgestellt. Nicht nur bei Hohmann und Günzel, auch bei Briefen, die ich bekomme. Wir haben ein besonderes Verhältnis zu Israel, weil die Gründung des Staates auch eine Folge der Judenverfolgung in Europa durch Deutsche ist - nicht nur durch die Deutschen, nicht durch alle Deutschen, aber durch den deutschen Staat.

SZ: Können wir heute unbefangen über Juden reden? Rau: Man kann ein unbefangenes Verhältnis zu Juden haben. Ich habe das. Ich habe viele jüdische und viele arabische Freunde, und am schönsten ist es, wenn ich die an einen Tisch bringe und wenn die sich dann streiten. Ich glaube, dass wir in Deutschland Behutsamkeit in der Sprache nicht genug gelernt haben.

SZ: In der Knesset haben Sie gesagt: "Die persönliche Schuld mag der Täter mit ins Grab nehmen. Die Folgen einer Schuld, die die Grundlagen menschlicher Sittlichkeit erschüttert hat, tragen die nach ihm kommenden Generationen." Die aktuellen Fälle zeigen, dass darüber in Deutschland kein Konsens besteht. Rau: Man muss das jedenfalls genau beobachten. Genauso gefährlich ist das Desinteresse. Manche zucken bei diesem Satz ja einfach mit den Schultern und sagen: "Na und?"

SZ: Das eben tritt ja im Fall Hohmann zutage, dieses: "Wir wollen nicht mehr Schuld sein." Rau: Natürlich gibt es eine Schlussstrichmentalität. Natürlich gibt es Leute, die sagen: "Nun muss es aber mal gut sein." Dem muss man widerstehen. Schon Theodor Heuss hat gesagt, es gibt keine Kollektivschuld, aber es gibt eine Kollektivscham - das bleibt auch so. Aber: Viele Menschen empfinden diese Diskussion als einen Fremdkörper in ihrem Leben. Die muss man da abholen, wo sie sind.

SZ: Wo wollen Sie Herrn Hohmann abholen? Rau: Den muss ich nicht abholen. Seine Partei hat ja jetzt reagiert und klare Grenzen aufgezeigt.

SZ: Viele Deutsche muss man heute bei einer ganz massiven Israel-Kritik abholen. Kocht der alte Antisemitismus auf neuer Flamme? Wie kommt man aus dem Zwiespalt heraus, Israel berechtigt zu kritisieren und andererseits mit dieser Kritik nicht den Antisemitismus zu befördern? Rau: Indem man zusammenführt. Man darf eben nicht den Umkehrschluss machen. Man darf nicht sagen, wenn viele ihren Antisemitismus in einer antiisraelischen Kritik verstecken, dann ist jede antiisraelische Kritik ein versteckter Antisemitismus. Man muss die israelische Politik kritisieren können, wenn man sie für falsch hält oder auch für moralisch nicht legitim, ohne dadurch in den Verdacht zu kommen, man sei ein Antisemit. Aber dazu gehört eben auch die notwendige Glaubwürdigkeit. Ich war in den vergangenen Jahrzehnten oft in Israel. Ich habe den Eindruck, dass ich zu denen gehöre, die in Israel und über Israel in Deutschland auch ein kritisches Wort sagen können. Aber keiner soll wagen, seine antisemitischen Vorurteile in eine solche Kritik zu verpacken.

SZ: Aber nicht jeder ist ein Rau. Wie sollen die normalen Menschen das machen? Rau: Dazu muss man nicht Johannes Rau sein. Zum Nahostkonflikt beispielsweise äußern sich ja viele Menschen. Es kommt aber entscheidend darauf an, ob man mit der gebotenen Sensibilität an die Sache herangeht. Nicht, weil man etwas nicht sagen dürfte, was eigentlich wahr wäre - solche Legenden werden ja gelegentlich gestrickt -, sondern weil man sich der besonderen historischen Verantwortung bewusst sein muss, die wir Deutsche gegenüber Israel haben. Diese Verantwortung entspringt einer historischen Erkenntnis, und das ist eben nicht einfach nur political correctness, wie es manchmal hämisch heißt.

SZ: Ist der Antisemitismus eine deutsche Krankheit? Rau: Nein. Der Antisemitismus ist ganz gewiss eine späte Folge falsch verstandenen frühen Christentums. Die Geschichte des Antijudaismus in beiden Kirchen ist nicht genug aufgearbeitet. Ich glaube, dass der Antisemitismus deshalb so tiefe Wurzeln hat, weil er theologisch und philosophisch nicht korrekt aufgearbeitet wurde.

SZ: Verhalten sich die Juden in Deutschland falsch, präsentieren sie sich zu sehr als Opfer, wie Henryk M. Broder im Spiegel gemeint hat? Rau: Die gegenwärtigen Vertreter der jüdischen Bürger machen es richtig. Paul Spiegel hat zu Recht gesagt, er wolle nicht zur moralischen Instanz werden, der die Werte beurteilt, nach denen wir leben. Es geht auf beiden Seiten auch um Behutsamkeit in der Sprache.

SZ: Vielleicht geht es nicht nur um die Sprache, sondern auch um die Rituale. "Kommt ein israelischer Minister zu Besuch nach Deutschland, um über den Ankauf deutscher Waffen zu verhandeln, eilt er als Erstes nach Dachau oder Buchenwald, um dort einen Kranz niederzulegen und ins Gästebuch ,Nie wieder Holocaust zu schreiben'. Fährt ein deutscher Minister nach Israel, wird er, kaum dass er gelandet ist, nach Jad Vaschem geschleppt, um das Bekenntnis abzugeben, dass sich der Holocaust nicht wiederholen darf." Die Sätze stammen vom deutschen Juden Broder. Peinliche Rituale? Rau: Für mich gehört der Besuch in Jad Vaschem auch zum Israel-Besuch, das gebietet die Ehrfurcht vor der Geschichte der Juden in Europa und dem schrecklichen Ende dieser Geschichte. Aber ich versuche auch andere Akzente zu setzen, indem ich da hingehe, wo die Geschichte der Juden vor der Shoa im Mittelpunkt steht - indem ich etwa über Berlin sage, das ist auch die Stadt von Moses Mendelssohn. Natürlich gibt es immer beim Gedenken die Gefahr der Ritualisierung. Es gibt auch die Gefahr der Überfütterung mit NS-Geschichte in manchen Schulstunden. Das halte ich für falsch, es ist aber auch ein Reflex auf Mangelerscheinungen, die es vorher jahrzehntelang gegeben hat.

SZ: Was soll von Ihrer Tätigkeit bei den Menschen haften bleiben? Rau: Ich glaube, dass meine Aufgabe als Bundespräsident vor allem darin besteht, Menschen zusammenzuführen. Und zwar Juden und Nichtjuden, um bei dem Thema zu bleiben, Junge und Alte, Ost und West.

SZ:Ist die Spaltung zwischen Ost und West größer geworden? Rau: Nein. Aber die wirtschaftliche Situation im Osten ist schwieriger geworden.

SZ: In der ersten Phase Ihrer Amtszeit haben Sie auch gesagt: "Wer Anstöße geben will und soll, der muss selber anstößig sein." Wo waren Sie denn anstößig? Rau: Da könnte ich Ihnen viele Punkte nennen. Meine Berliner Reden etwa, die zur Integration von Ausländern, die zur Gentechnologie oder die zur Globalisierung, sind von Mehrheiten oder Minderheiten als anstößig empfunden worden. Auch meine Entscheidung über das Zuwanderungsgesetz - und vor allem die Begründung dazu - hat nicht nur Beifall gefunden. Das muss auch so sein, denn der Bundespräsident hat eine doppelte Aufgabe. Er muss für die Mehrheit der Deutschen sprechen, und er muss die Minderheiten in die Mitte holen.

SZ: Wie wichtig ist der Bundespräsident für das politische Klima im Land? Kann er da etwas verändern oder nur aufnehmen und verstärken? Rau: Manchmal kann man durchaus etwas verändern. Als die Diskussion um den Irak-Krieg ihren Höhepunkt erreichte, habe ich alle Partei- und Fraktionsvorsitzenden zu mir gebeten, um sie zu bitten, in der Sprache abzurüsten. Ich glaube, das war ein nützliches Gespräch.

SZ: Sie empfinden sich auch als Notbremse? Rau: Beschimpfungen, in denen von einem "Kreuzzug" oder der angeblichen Zerstörung der deutsch-amerikanischen Beziehungen die Rede war - das ging mir zu weit. Im Übrigen soll der Bundespräsident sich äußern, wenn er etwas zu sagen hat, aber er soll auch mal schweigen. Ort der politischen Auseinandersetzung in der Demokratie ist das Parlament, nicht die Talkshow. Und ich habe gelegentlich den Eindruck, wir plaudern uns zu Tode.

SZ: Die Auswanderung der Politik aus den Parlamenten hinein in die Talkshows... Rau: ...ist eine Entwicklung, die ich leider nicht beeinflussen kann. Aber ich habe eine Plenarsitzung des Bundestages für Sonntagabend, 21.30 Uhr, vorgeschlagen, trotz des Feiertagsgebots, damit die Entscheider mal da sind, wo sie hingehören.

SZ: Hat Herr Thierse schon zugestimmt? Rau: Der Vorschlag war eher ein Denkanstoß, ein Hinweis auf eine Fehlentwicklung, die ich schon seit längerem sehe.

SZ: Findet Politik zu viel in Geheimzirkeln statt? Rau: Ganz eindeutig ja. Das hängt damit zusammen, dass der Stoff der Politik so kompliziert geworden ist, dass man gelegentlich offenbar glaubt, man könne und dürfe nicht mehr erklären, was man tut. Glaubwürdigkeit in der Politik entsteht aber nur nach dem schlichten Satz: Man muss sagen, was man tut, und tun, was man sagt. Nun gibt es eine Neigung, Sachfragen in Kommissionen zu geben und dort derart spezialisierten Menschen zu übertragen, dass die hernach nicht mehr in der Alltagssprache sagen können, was sie getan haben. Da ist eine Übersetzungsarbeit dringend nötig.

SZ:Herr Bundespräsident, ist möglicherweise das Grundgesetz schuld am Reformstau? Wir feiern im nächsten Jahr am 23.Mai das 55. Jubiläum des Grundgesetzes. Werden Sie in einer Ihrer letzten Reden sagen: Grundgesetz, du warst schön und gut. Aber jetzt ruhe sanft, wir brauchen eine neue Verfassung? Rau: Ich bin für eine Reform des Grundgesetzes. Wir brauchen keine völlig neue Verfassung, aber eine substanzielle Reform steht uns ins Haus. Sie muss vor allem deshalb kommen, weil es eine Reihe von Fragen gibt, in denen es zu viele schleichende Kompetenzveränderung gibt. Ich bin deshalb für eine Klärung der Verhältnisse zwischen Bund, Ländern, Gemeinden und Europäischer Union. Die halte ich für zwingend.

SZ: Ist es nicht so, dass alle politischen Lager mit der Organisation, so wie sie jetzt ist, recht zufrieden sind? Rau: Nein, ich glaube das nicht. Es gibt ein großes Unbehagen in den Parteien und auch an den Parteien. Dabei gehöre ich zu denen, die immer wieder der Parteienverdrossenheit widersprechen und widerstehen. Denn wer die Parteien abmeiert, der darf sich nicht wundern, wenn der Ständestaat zurückkommt.

SZ: Wer meiert sie ab? Rau: Da mischen viele mit, auch die Parteien selber. Wir reden viel über Mitgliederschwund bei den Parteien und zu wenig darüber, wie man wieder Menschen gewinnt - nicht nur, indem man sie umformt nach dem Bild der Parteien, sondern indem die Parteien sich umformen nach dem Bild der Gesellschaft.

SZ: Es gibt ein Mittel dafür, Engagement für ganz bestimmte Fragen zu erreichen: das Plebiszit. Wir haben eine strikt repräsentative Verfassung - andere Länder haben mit Volksentscheiden gute Erfahrungen gemacht. Welchen Stellenwert hat für Sie das Plebiszit, auf deutscher und auf europäischer Ebene? Rau: Nachdem alle 16 Landesverfassungen irgendeine Art von Plebiszit haben, bin ich der Auffassung: Das braucht auch die Bundesebene.

SZ: Auch eine Abstimmung über die europäische Verfassung selber? Rau: Nein. Da würden Teilfragen der Verfassung überbewertet, in jedem Land andere; das Projekt Europa wäre gefährdet.

SZ: Sie haben vorgeschlagen, den Bundespräsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen. Warum? Rau: Ein Bundespräsident, der unabhängig ist von Meinungsumfragen oder Koalitionen, kann ein stärkeres Gewicht haben. Allerdings ist dann für mich die Voraussetzung, dass er nicht wiedergewählt wird.

SZ: Muss er dann aber auch nicht mehr Macht haben? Rau: Nicht mehr Macht, sondern mehr Kompetenzen. Zum Beispiel bei der Entscheidung über die höchsten Richter im Lande. Auch bei bestimmten außenpolitischen Fragen, etwa bei der Entscheidung über die Entsendung von Botschaftern, gäbe es größere Mitwirkungsmöglichkeiten. Aber darüber sollen die Verfassungskommissionen nachdenken. Ich bin mit meinen Kompetenzen immer zufrieden gewesen.

SZ: Nun gibt es den Vorschlag aus dem so genannten Verfassungskonvent, dem Bundespräsidenten ein Gesetzes-Initiativrecht zu geben, wenn Bundestag und Bundesrat sich blockieren und wichtigste Gesetze liegen bleiben. Rau: Das halte ich für falsch. Wir brauchen keinen neuen Hindenburg, und wir brauchen keine Präsidialdemokratie.

SZ:Was machen Sie nach Ihrer Amtszeit? Rau: Ich werde meinen Wohnsitz in Wuppertal nicht aufgeben, aber sicher ein zweites Standbein in Berlin haben. Ich habe ja nicht vor, mich aus dem politischen Leben völlig zurückzuziehen.

SZ:Der Bundeskanzler hat angekündigt, er werde, wenn er nicht mehr Kanzler ist, Memoiren schreiben. Und Sie? Rau: Ich werde manches aufschreiben, ob es Memoiren werden, weiß ich nicht. Ich habe so viel Schönes, Aufregendes und gelegentlich auch Bedrückendes erlebt, dass ich das nicht nur meinen Kindern erzählen möchte, sondern auch anderen - damit sie möglicherweise daraus lernen, wie man Politik menschlicher machen kann als sie ist.

SZ:Würden Sie ihren Kindern nach Ihrer jahrzehntelangen Erfahrung abraten, in die Politik zugehen? Rau: Ich würde ihnen nicht abraten. Aber ich würde ihnen raten, sich zuerst in einem anderen Beruf zu bewähren, damit sie nicht abhängig werden von der Politik - so wie ich zum Glück nie abhängig gewesen bin vom politischen Amt.

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Quelle:
SZ vom 17.11.2003
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