Süddeutsche Zeitung

Internationale Justiz:Klagen über Den Haag

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Immer wieder haben die USA mit Sanktionen gedroht, falls Juristen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in Afghanistan ermitteln. Jetzt beugten sich Richter dem Druck.

Von Ronen Steinke, Berlin

Seit Jahren trotzt der Internationale Strafgerichtshof verschiedenen Drohungen aus den USA. Erst Anfang April waren diese Drohungen schärfer geworden. Die Juristen in Den Haag, die Vorermittlungen wegen mutmaßlicher amerikanischer Kriegsverbrechen in Afghanistan führten, werde man mit Sanktionen belegen, hatte John Bolton gewarnt, der Nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten Donald Trump. Die internationalen Richter und Staatsanwälte sollten sich auf Einreiseverbote gefasst machen, wenn sie nicht aufhören. Man werde ihre persönlichen Konten bei amerikanischen Banken einfrieren. Und: "Wir werden sie durch die US-Strafjustiz verfolgen."

Nun ist in Den Haag eine Entscheidung gefallen, und Bolton dürfte damit nicht unzufrieden sein. Die Afghanistan-Ermittlungen sind eingestellt worden. Aus Gründen der "Gerechtigkeit", so haben drei Richter der Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs bereits am 12. April entschieden, solle der Verdacht von Kriegsverbrechen in Afghanistan nicht weiterverfolgt werden (ICC-02/17-33). Also nicht etwa, weil es Zweifel an diesem Verdacht geben würde oder andere juristische Hindernisse entgegenstehen, sondern - so die Erläuterung der Richter - weil die Ermittlungen zu schwierig wären. Indirekt nehmen die Richter sogar Bezug auf die Drohungen aus Washington: Die Ermittlungen gegen US-Soldaten wären zu wenig aussichtsreich, solange es an "Kooperation" der betroffenen Staaten mangelt. Sprich, der USA und Afghanistans.

Die Chefanklägerin am Weltstrafgericht, die gambische Juristin Fatou Bensouda, hätte zwar gerne weitergemacht. Sie hat bereits 2016 einen vorläufigen Ermittlungsbericht zu Afghanistan vorgelegt, der US-Soldaten und Mitarbeitern des US-Auslandsgeheimdienstes CIA unter anderem die Folterung Inhaftierter vorwarf, daneben auch Angehörigen der Taliban und der afghanischen Armee. Aber nach den Regeln des Gerichtshofs musste sie ihre Ermittlungen der Richterkammer vorlegen, bevor sie sie fortsetzen durfte. Die Richter können eine Ermittlung stoppen, und zwar auch schon, wenn sie aus ihrer Sicht nicht in the interest of justice ist, im Interesse der Gerechtigkeit.

Die Entscheidung der Richter hat nun einige Verblüffung ausgelöst, "zynisch und schädlich für die Reputation des Gerichtshofs" nennt sie der Rechtsprofessor Christoph Safferling, der an der Universität Erlangen-Nürnberg die Forschungsstelle Völkerstrafrecht leitet. "Was für eine Logik", sagt sein Kollege Kai Ambos, der an der Universität Göttingen lehrt und zugleich selbst Richter des Kosovo-Sondertribunals in Den Haag ist. "Der Angeklagte und sein Staat möchten nicht kooperieren. Also lässt die Justiz von ihm ab?" Die USA sind zwar nicht Mitglied des Weltstrafgerichts, sie haben dessen Statut nicht unterzeichnet. Aber Afghanistan ist Mitglied. Deshalb ist Den Haag zuständig für alle Kriegsverbrechen, die im Land am Hindukusch verübt werden und die nicht schon anderweitig verfolgt werden.

Ein Völkerrechtler zweifelt an der Qualität der Juristen. Vielen fehle es an Erfahrung

Die aktuelle Afghanistan-Entscheidung setzt eine Serie von Freisprüchen und ähnlichen Entscheidungen zugunsten der Beschuldigten fort, die dem Gerichtshof in jüngerer Zeit viel Kritik eintragen: Der Ex-Präsident der Elfenbeinküste, Laurent Gbagbo, in Den Haag beschuldigt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit - freigesprochen. Der Präsident von Kenia, Uhuru Kenyatta, beschuldigt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit - die Anklage wurde fallengelassen, weil die Beweisführung der Haager Anklagebehörde in sich zusammenbrach. "Ein Freispruch ist für einen Rechtsstaat kein Makel", sagt der Völkerrechtler Safferling. "Im Gegenteil, er ehrt einen Rechtsstaat, weil dadurch gezeigt wird, dass der Rechtsstaat seine eigenen Kriterien ernst nimmt. Die Frage ist aber immer, wie ein Freispruch zustande kommt."

Inzwischen mehren sich die Stimmen, wonach etwas an der Arbeitsweise des Gerichtshofs nicht stimmen könne, wenn fast alle seiner Prozesse bisher platzten oder in einem Freispruch endeten. Vier ehemalige Präsidenten der Versammlung der Gerichtshof-Mitgliedstaaten, unter ihnen der frühere UN-Hochkommissar für Menschenrechte Zeid al-Hussein, haben deshalb am Donnerstag einen Appell veröffentlicht: Eine "unabhängige Bewertung der Funktionsweise" des Gerichtshofs durch Experten sei dringend nötig.

Das eindrucksvollste, für viele ärgerlichste Beispiel stammt aber aus dem vergangenen Juni. Zehn Jahre lang saß der ehemalige Vizepräsident Kongos, Jean-Pierre Bemba, in Den Haag in Untersuchungshaft als mutmaßlicher Kriegsverbrecher, 18 Jahre sollte seine Haftstrafe lauten, so entschieden die Richter in erster Instanz. Jetzt aber verlangt er fast 70 Millionen Euro an Haftentschädigung und Schadenersatz, denn die Richter zweiter Instanz haben ihn überraschend freigesprochen. "Hier hat die Berufungskammer am Ende eines langen Rechtsweges völlig neue Kriterien für eine Strafbarkeit eingeführt, die vorher nicht absehbar waren", sagt der Völkerrechtler Safferling.

Die Kriegsverbrechen wurden in der Zentralafrikanischen Republik begangen, der Beschuldigte Bemba aber saß zu dieser Zeit im Kongo. Es ging also um die Frage, ob seine Verbindung zu den Truppen eng genug war, damit man sagen kann, er war verantwortlich. Die Richter zerstritten sich, am Ende gaben fünf Richter vier unterschiedliche Meinungen zu Protokoll, der Beobachter Safferling spricht von einem "Debakel". Der Eindruck sei, "dass selbst die Richter der letzten Instanz völlig uneinig sind, was eigentlich gilt".

Die "Qualität der Richter" sei womöglich eines der Hauptprobleme, sagt der Völkerrechtler Ambos, das sei nicht mehr zu übersehen. Viele Richter, die nach Den Haag entsandt werden, sind zuvor Diplomaten gewesen. "Es ist selten die Krönung einer langen Richterkarriere", sagt auch ein Haager Insider, der die Arbeit der Richter aus nächster Nähe kennt. Oft fehle es an Erfahrung.

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SZ vom 27.04.2019
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