Süddeutsche Zeitung

Indigene Völker:"Es ist ein Überlebenskampf"

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Wie indigene Völker durch große Unternehmen gefährdet und Menschenrechtsaktivisten gegängelt werden, erklärt Ulrich Delius, Direktor der Gesellschaft für bedrohte Völker.

Interview von Julia Kitzmann

Etwa 6000 indigene Völker gibt es laut der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) weltweit. Circa 54 Millionen Indigene leben in etwa 70 Staaten - eine große Zahl in den lateinamerikanischen Anden oder in Südostasien, einige aber auch in Schweden oder Finnland. In der Regel gilt ein Volk als indigen, wenn seine Mitglieder direkte Nachkommen der ersten Bewohner einer bestimmten Region sind und sich von der Mehrheitsgesellschaft durch ihre Kultur, Lebensweise und Sprache unterscheiden. Eine einheitliche, international anerkannte Definition existiert nicht. Ulrich Delius ist Direktor der GfbV, die sich für die Rechte indigener Völker einsetzt und Menschenrechtsaktivisten unterstützt.

SZ: Herr Delius, Ihre Organisation will eine Öffentlichkeit in Politik und Gesellschaft für die Belange indigener Völker schaffen. Wie ist deren Lage?

Ulrich Delius: Ihre Zahl nimmt ab. Und das nicht nur, weil sich die Welt verändert und die Menschen aus ländlichen Regionen abwandern. Sie nimmt auch ab, weil ganz gezielt in die Lebensräume der Indigenen eingegriffen wird.

Wie wird eingegriffen?

Indigene Völker kämpfen mit ganz unterschiedlichen Arten von Bedrohungen. Die Gebiete, auf denen sie leben, sind oft schwer zugänglich, aber etwa aufgrund von Bodenschätzen für große Unternehmen interessant. Für viele indigene Völker ist es eine Überlebensfrage, ob sie ihr Land auch nutzen können. In Südostasien findet zum Beispiel eine enorme Zerstörung von Regenwäldern für die Produktion von Palmöl statt. Vor allem in Indonesien und Malaysia passiert das in großem Ausmaß. In Indien, wo etwa 100 Millionen Menschen als Adivasi, also als Ureinwohner des Landes gelten, zerstört der Bau von Staudämmen und die industrielle Erschließung, auf die die Regierung sehr stark drängt, zunehmend ihren Lebensraum.

Was passiert dann mit den indigenen Völkern?

Für die ethnischen Gruppen bedeutet das meistens das Aus. Das Großprojekt und die dafür eingerichtete Infrastruktur führen dazu, dass sie ihr traditionelles Leben nicht mehr führen können, dass sie zum Beispiel ihre Rinderherden verlieren. Viele werden umgesiedelt und damit aus ihrem sozialen Kontext herausgerissen. Das geht meistens nicht gut. Die einzelnen Mitglieder überleben vielleicht physisch - aber nicht die eigenständige ethnische Gruppe, die eine eigene Sprache hat. Gerade in Sibirien ist das der Fall: Zum Teil nur kleine Gruppen von 500 Leuten sollen an die Ränder von Städten ziehen.

Damit sind sie gezwungen, sich den Lebensgewohnheiten der Städter anzupassen.

Richtig, sie assimilieren sich - da braucht der Staat noch nicht mal viel zu tun. Die Anpassung schreitet voran, sodass die ethnische Gruppe nach ein oder zwei Generationen aufhört zu existieren. Natürlich gefährdet auch der Klimawandel das Leben der Indigenen.

Immer wieder gibt es außerdem Berichte über politische Verfolgung.

In Guatemala gab es 2017 rund 500 Übergriffe auf indigene Menschenrechtsaktivisten - das geht von Einschüchterungen bis hin zu politisch motivierten Morden. Das Phänomen der individuellen Bedrohung beobachten wir in ganz vielen Ländern. In Russland versuchen die Behörden, indigene Organisationen gleichzuschalten oder indigene Menschenrechtler mit falschen Anklagen einzuschüchtern.

Dabei gibt es durchaus Bemühungen, indigene Völker zu schützen. Die UN haben 2006 hat die Erklärung für die Rechte indigener Völker verabschiedet.

In den letzten 20 Jahren hat sich das Völkerrecht mit Blick auf den Status indigener Völker in der Tat deutlich weiterentwickelt. Es ist zwar positiv, dass einige Prinzipien kodifiziert wurden. Vieles wird aber nicht in nationale Gesetzgebung oder in konkretes Handeln umgesetzt. Eine Überprüfung findet nicht statt. Es gibt keine Beschwerdestelle. Die Staaten fühlen sich nicht an die Erklärungen gebunden und geben Wirtschaftsinteressen den Vorrang. Das Papier ist schön, die Realität oft eine andere.

Könnte Deutschland mehr tun?

Ja, es gibt eine Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die den Schutz der Rechte indigener Völker umfassend regelt. Deutschland muss sie endlich ratifizieren. Jetzt ist dieses Vorhaben dank der SPD in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden.

Trotzdem sind positive Entwicklungen auszumachen: Vor ein paar Jahrzehnten gab es kaum indigene Organisationen.

Ja, in der indigenen Welt haben wir in den letzten 20 Jahren einen rasanten Prozess der Selbstorganisation verfolgt. Früher haben Menschenrechtler aus Industrieländern das Wort für die indigenen Völker erhoben.

Und heute spielen indigene Menschenrechtler auch in der internationalen Politik eine Rolle?

Sehr häufig - das ist bei den UN nicht anders als bei den nationalen Regierungen - gibt man ihnen nur ein paar Minuten. Da darf ein indigener Repräsentant mit Feder im Haar auftreten, aber bei den Verhandlungen will man die Kritik nicht mehr hören. Man schmückt sich mit Indigenen. Dabei befinden sie sich auf Augenhöhe. Auf internationalen Konferenzen sitzen indigene Repräsentanten mit der gleichen Vorbildung neben uns, schlagen ihre Laptops auf und halten Vorträge.

Also sind Laptop und Internet auch bei Indigenen angekommen?

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt circa 100 isoliert lebende Völker. Sie haben keine Verbindung zu dem, was wir Zivilisation nennen. Der Großteil der indigenen Gruppen der Welt hat aber durchaus Kontakt zur Gesellschaft. Dazu gehört, dass sie soziale Medien oder Nachrichtendienste wie Whatsapp nutzen. Indigene Völker in Brasilien markieren sogar die Grenzen ihres angestammten Landes über Geo-Mapping auf ihren Handys und Tablets.

Sie sind also mit beiden Kulturen vertraut.

Und weisen uns auch auf die Unterschiede hin. Ein gutes Beispiel ist der Begriff "Land". Für uns ist es völlig normal, Land zu verkaufen. Für Indigene ist es das nicht. Land und Kultur sind für sie untrennbar verwoben.

Werden indigene Völker irgendwann verschwinden?

Leider ist das Gesamtszenario insgesamt eher ein negatives. Es ist ein Abwehrkampf, es ist ein Überlebenskampf für die meisten indigenen Völker. Wir wollen verhindern, dass wir in einigen Jahrzehnten nur noch in Museen bestaunen können, was diese Kultur einmal war. Indigene Völker sind Teil des Welterbes, der Kultur, dieser Erde. Wir müssen sie respektieren und erkennen, was wir von ihnen lernen können - etwa ihren Umgang mit der Natur.

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