Hunger im Ersten Weltkrieg:Im Angebot: Dachs und Eichhörnchen
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Schon in den ersten Kriegswochen tauchen in München minderwertige Lebensmittel auf, zum Beispiel "Roggenbrot" aus Kartoffelmehl. Je länger der Erste Weltkrieg andauert, desto mehr verschärft sich die Lage. Erst geht es noch um Arbeitsfähigkeit, später ums Überleben.
Von Wolfgang Görl
Am 18. Juni 1916 notiert der Schriftsteller Erich Mühsam, nach dem Krieg einer der führenden Revolutionäre, 1934 im KZ Oranienburg ermordet, in sein Tagebuch:
"Das Volk steht auf! Gestern erlebten wir den Auftakt der Revolution (...) In der Tat stand der Marienplatz voll von Leuten, die ich auf 10 000 Personen schätzte (eine unsichere Schätzung, da ich keinen rechten Maßstab hatte). Johlen und Pfeifen war zunächst das einzige Merkmal der Erregung. Allmählich hörte man aus den Gruppen heraus lauter Fluchen, Aufklärungen, Anklagen wegen der Not der Nahrungsmittelverteilung, der Massenmörderei (...) Da entdeckte ich plötzlich, daß die Dienerstraße entlang Militär anrückte mit aufgepflanztem Bajonett und sich an der Ostseite des Rathauses aufstellte. Eine maßlose Wut brach durch. Alles schrie: 'Pfui! Gemeinheit! - Sauhunde! Blaue Bohnen statt Brot'."
Na ja, eine Revolution war die Demonstration vom 17. Juni, bei der die Münchner, Frauen und Alte vor allem, höhere Brotrationen forderten, noch nicht. Aber sie belegt, wie radikal sich die Stimmung in der Stadt seit dem von vielen bejubelten Kriegsausbruch im Sommer 1914 geändert hat.
Benebelt von der Propaganda des Staates und der nationalen Presse hatten die Leute anfangs geglaubt, der Krieg werde bald zu Ende und die Soldaten bis Weihnachten siegreich heimgekehrt sein. Doch schon bald zeigte sich, dass trotz der anfänglichen Erfolge der bayerischen Truppen an der Westfront mit einem schnellen Sieg nicht zu rechnen war.
Auf lange Kriegsdauer nicht eingestellt
Traumtänzern gleich war man in den Krieg getaumelt, so als hätte man einen Sommer voller Glanz und Gloria vor sich und die Kämpfe, kein Zweifel, die fänden im Feindesland statt, da müsse man sich nicht sorgen ( hier mehr dazu, wer vom Krieg begeistert war). Wenige Wochen später wussten die Münchner, das die Realität eine andere war: Der Krieg war nichts, das irgendwo in der Ferne passierte. Der Krieg warf seinen Schatten auch auf das normale Leben weitab von der Front. Der Krieg war überall. Und er zog sich hin.
Darauf war man nicht eingestellt - und wo es doch warnende Stimmen gab, wurden sie vom Hurra der Kriegsbegeisterten übertönt. In seinem kürzlich erschienenen Buch "München im Ersten Weltkrieg" schreibt Hermann Wilhelm: "Da in Militär- und Regierungskreisen nur mit wenigen Monaten Kriegsdauer gerechnet wurde, ist man auf eine längerfristige Grundversorgung der Großstadt München, die 1915 rund 630 000 Einwohner hat, schlicht nicht vorbereitet."
Über diplomatische Winkelzüge, Aufmarschpläne und militärische Strategien hatten die Politiker des Kaiserreichs seit Jahren debattiert, weitaus weniger Gedanken verschwendeten sie an die wirtschaftlichen Folgen des Krieges. Sofern man sich nicht überhaupt in Illusionen verlor, trafen die Regierenden Vorkehrungen, die sich bald als unzureichend erweisen sollten.
Nun also der Krieg: Schon in den ersten Wochen gerät die industrielle und landwirtschaftliche Produktion ins Stocken, weil die Männer, die bis dahin die Arbeit geleistet hatten, an der Front sind. Frauen müssen einspringen, wovon aber vor allem die Rüstungsindustrie profitiert, die im Gegensatz zu anderen Industriezweigen ausreichend mit Rohstoffen beliefert wird.
Die Bauern wiederum müssen nicht nur auf ihre zur Truppe eingezogenen Söhne und Knechte verzichten, sondern auch auf ihr Vieh. Die Pferde beansprucht die Armee als Reit- und Lasttiere, Rinder enden in der Feldküche. Was die Truppe verbraucht, fehlt der Zivilbevölkerung in den Städten und auf dem Land. Die britische Seeblockade tut ein Übriges, die von Importen und Exporten abhängige Wirtschaft des Kaiserreiches in die Krise zu treiben.
Nur "Kriegssemmeln" zulässig
In München, schreibt Wilhelm, kommen bereits in den ersten Kriegswochen minderwertige Lebensmittel auf den Markt, etwa ein "Roggenbrot", das hauptsächlich aus Kartoffelmehl besteht. Zu Beginn des Jahres 1915 sehen sich die Behörden gezwungen, auf die zunehmende Knappheit an Rohstoffen mit Verordnungen und Verboten zu reagieren.
Von Februar an ist es den Bäckern untersagt, Brezn, Kaisersemmeln, Hörnchen oder Schnecken herzustellen, als "Kriegssemmeln" sind allein "einfach geformte runde Laibchen" zulässig. Einen Monat später gibt es Mehl nur noch gegen Marken, Gleiches gilt für Brot und bald auch für Fleisch, Obst, Gemüse, Kartoffeln und Milch. Wucherer und Spekulanten, die Lebensmittel horten, um deren Preise in die Höhe zu treiben, tragen dazu bei, die Not zu steigern.
Was die Menschen mitmachen müssen, um an Lebensmittel zu kommen, dokumentiert das Tagebuch des Münchner Essayisten und Mitbegründers der Süddeutschen Monatshefte Josef Hofmiller, der gegen Ende des Krieges, am 23. August 1918, schreibt: "Um 8 Uhr in der Bazeilleschule, um Lebensmittel fürs Büble zu holen. Man schickt mich nach Metzstraße 12, Säuglingsanstalt, um die Karte abstempeln zu lassen. Ich kann die Beamtin erst um ³/₄ 11 treffen. Inzwischen heim, um nachzusehen, ob wir die Reserve-Brotmarken-Abschnitte noch haben. Nein. Zur Dollin, Zwiebel und Beeren bestellt. Sie sagt, der Abschnitt gilt. In die Isaria-Drogerie, gefragt ob schon Süßstoff da ist. In der Schloßstraße versucht, Brot zu kaufen: der Abschnitt gilt nicht, weil die rechte Hälfte fehlt. Zur Bäckerei Seeberger: versucht, ob mir vielleicht sie für meine Abschnitte Brot geben. Abgewiesen. Zurück zur Dollin, ob sie vielleicht diese rechten Abschnitte hat. Nein. Zu Kufner, mich für Butter und Käse vormerken zu lassen. Wieder Metzstraße 12, abstempeln lassen. Man macht mich aufmerksam, daß mehrere Marken sofort verwendet werden müssen, sonst verfallen sie. Also gleich wieder zurück zur Isaria-Drogerie, um mich vormerken zu lassen für Säuglingsnahrung und Haferflocken. Wieder zur Dollin, um Zwiebel und Beeren auch für soeben erhaltene Marken zu bestellen. Zu Seeberger: sie gibt mir aus Gnade, weil ich eine alte Kundschaft bin, ¹/₂ Pfund Brot. Zu Kufner, 2 Buttermarken abgeben, die ich soeben für den Säugling erhalten habe. So sieht ein Kriegsvormittag aus. Solche Kriegsvormittage habe ich hunderte hinter mir."
Mit Widrigkeiten, wie sie Hofmiller zu Papier bringt, haben die meisten Münchner während des Krieges zu kämpfen. 1916 besteht das Brot nur noch aus einer Masse aus Kleie und Kartoffeln; aus Abfällen und roter Grütze wird "Kriegswurst" produziert, und wer partout nicht auf Fleisch verzichten will, geht auf den Viktualienmarkt: Dort sind Dachs und Eichhörnchen im Angebot. In einem zeitgenössischen Münchner Gassenhauer besang man die Not mit Galgenhumor: "Eichelkätzchen, Wiesel, Marder / Tat man morden, Hund und Katz, / Füchse, Maulwurf, Häher, Krähen / Sicher war nicht Maus und Ratz."
Auch Kleidung und Kohlen werden knapp, durchgelaufene Ledersohlen ersetzt man durch Holzsohlen, zu allem Unglück steigt auch noch der Bierpreis. An der sogenannten Heimatfront macht sich zunehmend Verbitterung breit, die sich Mitte Juni in der von Mühsam geschilderten Hungerdemonstration entlädt. Den Behörden fällt nichts Besseres ein, als die protestierende Menge mit Polizei und Militär zu zerstreuen.
Zum Hamstern aufs Land
Noch schlimmer wird die Versorgungslage im Winter 1916/17. Zum Hauptnahrungsmittel avancieren die Steckrüben, die ehedem als Schweinefutter dienten. Die "Dotschen", wie sie die Münchner nennen, verarbeiten die Hausfrauen zu Suppe, Gemüse, Marmelade oder zu einer kaffeeähnlichen Brühe. Die Zeitschriften sind voller Dotschenrezepte, und die Großmarkthalle taufen sarkastisch gestimmte Witzbolde in "Dotschenpalast" um.
Zum Hamstern ziehen die hungrigen Städter aufs Land, was die Staatsregierung mit mäßigem Erfolg zu unterbinden versucht. Wer aber erwischt wird, kommt vor Gericht. Da Kohlen und andere Brennstoffe an die Truppe gehen, müssen die Münchner andere Quellen für Brennmaterial erschließen. In städtischen Grünanlagen, im Englischen Garten oder den umliegenden Wäldern stocken sie ihre Holzvorräte auf.
Gegen Ende des "Dotschenwinters", am 7. März 1917, erklärt der "Ärztliche Beirat der Stadt München für Lebensmittelangelegenheiten": "Es ist nach den Lehren der Wissenschaft vollständig ausgeschlossen, dass ein gesunder Mensch bei diesen knappen Ernährungsmengen arbeitsfähig bleibt."
In den folgenden Monaten aber geht es schon nicht mehr um Arbeitsfähigkeit, sondern ums Überleben. Jeder ist geschwächt, was dazu beträgt, dass sich im Herbst 1918 eine Grippeepidemie rasant ausbreitet. Allein in München fallen der Krankheit innerhalb von drei Monaten etwa 3000 Menschen zum Opfer.
Allmählich sickert auch durch, dass die militärische Lage weitaus schlechter ist, als bisher dargestellt. Die Menschen haben genug vom Krieg, von der Monarchie und den Politikern, die sie in die Katastrophe geführt haben. Am 7. November 1918 versammelt sich eine gewaltige Menge auf der Theresienwiese, um für den Frieden zu demonstrieren. Damit beginnt die Revolution. In der Nacht proklamiert Kurt Eisner die Republik.